von Götz Neuneck
Vor 30 Jahren, am 23. März 1983, hielt US-Präsident Ronald Reagan eine Aufsehen erregende TV-Ansprache, die als „Star Wars“-Rede in die Geschichte einging und in der er unter anderem die Wissenschaftler aufforderte, „ihre großen Talente in den Dienst der Menschheit und des Weltfriedens zu stellen und uns die Mittel zu geben, die Nuklearwaffen unwirksam und überflüssig zu machen.“ Ein HighTech-Astrodome sollte im Rahmen der Strategic Defense Initiative (SDI) errichtet werden, um die im Falle eines Nuklearkrieges anfliegenden Trägerraketen der Sowjets im Fluge zu zerstören. Es war der Beginn eines extrem ambitionierten Programms, um ein Arsenal von Hochenergielasern, von mit Nuklearexplosionen betriebenen Röntgenlasern und Schienenkanonen zu entwickeln, die weltweit und auch im Weltraum stationiert werden sollten.
Reagan setzte nicht nur auf amerikanische Stärke und einen neuen Rüstungsschub, sondern stellte zudem die Logik der nuklearen Vergeltung in Frage: „Wäre es nicht besser Leben zu retten als zu rächen?“ SDI – später bürgerte sich auch der Begriff Ballistic Missile Defense (BMD, strategische Raketenabwehr) ein – sollte letztlich zur Überwindung der nuklearen Abschreckung führen. Dies ist bis heute nicht gelungen, verschlingt jedoch weiterhin Unsummen und ist nach wie vor nicht realisierbar.
Seit 1983 sind in den USA circa 200 Milliarden US-Dollar in diverse Programme geflossen, um eine „strategische Verteidigung“ der USA und ihrer weltweit operierenden Streitkräfte sowie der Alliierten möglich zu machen. Die Ergebnisse sind mager. War das Ziel 1983 noch „der beängstigenden Raketenbedrohung der Sowjets zu begegnen“ (Reagan), waren spätere Programme (GPALS, NMD) eher zur Stärkung der Abschreckung gedacht. Heute sind die Ziele und Möglichkeiten der Raketenabwehr weiter geschrumpft. Es geht längst nur noch um das Abfangen von potentiell nuklearbestückten Langstreckenraketen Nordkoreas und Irans. Dennoch entzweit das Thema Raketenabwehr immer noch die Gemüter. Die Konfusion, die Reagan einst gesät hat, lebt munter fort. Leider ist auch Russland davon angesteckt.
Reagan begründete mit seiner Rede zugleich einen Mythos, der bis heute zugleich auch tiefgreifende nukleare Abrüstung blockiert. Die Anhänger dieses Mythos sind nicht gerade zahlreich, können aber ihre skurrilen Thesen weiterhin in seriösen Tageszeitungen verbreiten. Zuletzt tat dies Michael Rühle, ein NATO-Beamter, der bereits gelegentlich mit flotten Thesen aufgefallen war, unlängst in einem Beitrag in der FAZ („Hinter dieser Zeitung steckt ein kluger Kopf.“), in dem er die SDI-Rede als „historischen Glücksfall“ bezeichnete. Rühle kommt gleich am Anfang zu dem Schluss: „Die Geschichte hat ihm (Reagan – G. N.) recht gegeben.“ Hat sie das? Natürlich hat ein NATO-Angestellter anderes zu tun, als Bücher zu lesen – zum Beispiel „The Dead Hand. The Untold Story of the Cold War“ des Pulitzer-Preisträgers David Hoffmann – oder Artikel wie „Shooting down the Star Wars myth“ von Paul Podvig im Bulletin of the Atomic Scientists. In diesen Arbeiten wird schlüssig dargelegt, dass SDI die nukleare Abrüstung unnötig verkomplizierte. Das sowjetische Politbüro kam zwar 1983 zu dem Schluss, dass SDI keine Bedrohung für die eigenen Nukleararsenale darstelle, beschloss jedoch nichts desto trotz ein ähnliches Programm, was vom russischen militärisch-industriellen Komplex sogleich enthusiastisch aufgenommen wurde. Die Hightech Programme beider Seiten, darunter unter anderem weltraumgestützte Anti-Satelliten- und Strahlenwaffen, funktionierten aber nicht oder die vorgesehenen Abwehrmittel waren nicht konstruierbar. Man kam nach einigen Jahren zu dem Schluss, dass es weitaus billigere Mittel („Gegenmaßnahmen“) gibt, eine teure strategische Verteidigung zu konterkarieren – nämlich neue Offensivraketen, also weitere Aufrüstung. Es ist zwar zutreffend, dass SDI den Sowjets ihre eigene organisatorische und technologische Rückständigkeit vor Augen führte, aber positiven Einfluss auf die nukleare Abrüstung hat dies nicht gehabt. Beim Gipfel in Reykjavik im Oktober 1986 standen Reagan und Gorbatschow kurz davor, eine Welt ohne Nuklearwaffen zu vereinbaren, aber das Ganze scheiterte tragischer Weise am Phantomprojekt SDI. Rühle begrüßt das noch heute, der Rest der Welt wohl eher nicht. Wäre Reagan auf eine entsprechende Vereinbarung mit der UdSSR (unter beiderseitigem Verzicht auf strategische Raketenabwehr) eingegangen, so wäre er wirklich ein großer Präsident geworden. Beide, Gorbatschow wie Reagan, konnten sich allerdings letztlich nicht von der Abschreckung lösen und sich nicht gegenüber ihren Bürokratien durchsetzen. Reagans damaliger Außenminister George Shultz, selbst in Reykjavik anwesend, tritt heute zusammen mit Henry Kissinger und vielen für eine nuklearwaffenfreie Welt ein.
Da das nukleare Wettrüsten seinerzeit jedoch irrsinnige Ausmaße angenommen hatte und gefährliche Situationen heraufbeschwor, die fast zum Nuklearkrieg führten, kam es schließlich doch noch zur nuklearen Abrüstung zwischen den USA und der UdSSR, besonders in Europa (Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenwaffen durch die „doppelte Nulllösung“, 1987).
Reagans Nachfolger George Bush senior ersetzte SDI 1989 durch den Plan für ein neues Abwehrsystem (GPALS), das ebenfalls nicht zu realisieren war. Seitdem wurden die nuklearen Arsenale weiter verringert – und zwar durch Abrüstungsverträge und nicht durch Raketenabwehr, welche Rühles Märchen zufolge die Sowjets doch noch an den Verhandlungstisch gebracht habe. Das bestätigen auch die Dokumente in Hoffmanns und Podvigs Analysen. Es waren eher die enormen Rüstungsausgaben und die gefährliche Situation in Europa, die die Supermächte aus dem Wettrüsten aussteigen ließen. Wenigsten behauptet Rühle nicht wie die Neokonservativen in den USA, SDI habe zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt.
Dank sowjetisch- und nachfolgend russisch-amerikanischer Rüstungskontrollverträge ist die Zahl der Nuklearwaffen beider Seiten seit 1983 von circa 50.000 auf 19.000 gesunken, während die BMD seither nur bescheidene Fortschritte erzielt hat. Trotzdem wurde 2002 der sowjetisch-amerikanische ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr George Bush junior gekündigt – übrigens nicht, wie Rühle schreibt, um eine seegestützte Abwehr möglich zu machen, sondern um den USA freie Hand für eine allgemeine qualitative und quantitative Weiterentwicklung und Dislozierung von BMD-Systemen zu geben. Inzwischen entwickeln auch China und Indien BMD und versetzen sich damit nicht zuletzt in der Lage, Satelliten über ihrem Territorium abzuschießen, was weitaus einfacher ist, als gut geschützte Sprengköpfe im Weltraum zu treffen. Ein Wettrüsten um den Weltraum droht. Hinzu kommt, dass neue Nuklearmächte wie Nordkorea sich offensichtlich von den vorhandenen Abwehrsystemen nicht beindrucken lassen beziehungsweise dadurch sogar angespornt werden, weitere Nuklearwaffen zu entwickeln und sich größere Stückzahlen zuzulegen.
Insgesamt ist die heutige Raketenabwehr-Realität wenig beeindruckend und hat speziell für das strategische Kräfteverhältnis zwischen den USA und Russland mit jeweils 1.500 Sprengköpfen auf interkontinentalen Trägersystemen keinerlei Bedeutung. Ganze 44 Abfangraketen umfasst etwa das amerikanische Ground-Based Midcourse Defense-System (GMD), das in Alaska und Kalifornien stationiert ist. In Europa sollen allerdings weitere Abfangraketen stationiert werden, und deshalb blockiert Russland neue Abrüstungsgespräche, obwohl selbst die Effizienz der wenigen GMD-Systeme gering ist: In 17 Abfangtests seit 1997 wurden nur acht Treffer erzielt und das unter extrem günstigen Bedingungen. Der letzte erfolgreiche Test erfolgte im Jahr 2008, seitdem gab es drei Misserfolge. Und Pentagon-Wissenschaftler stellten 2011 im Rahmen einer Studie fest, dass die heutige Abfang-Technologie machtlos gegen Attrappen sei. Zur Erklärung: Ein Angreifer hat die Möglichkeit, in die anfliegende Raketennutzlast neben echten Sprengköpfen Täuschkörper einzubauen, die durch derzeitige Aufklärungssensorik nicht von echten Sprengköpfen zu unterscheiden sind. Eine Studie der US National Academy of Science vom September 2012 bestätigte, dass dieses Problem bisher ungelöst ist. Aber mit solchen schlichten Tatsachen und Studien beschäftigt sich ein NATO-Beamter, der heute für Energiesicherheit zuständig ist, natürlich nicht.
Inzwischen wurden die technischen und sicherheitspolitischen Probleme der Raketenabwehr auch nach Europa getragen. Dem amerikanischen „European Phased Adaptive Approach“ (EPAA) hat die NATO in Lissabon 2011 zugestimmt, um im Rahmen der kollektiven Verteidigung „die Bevölkerung und das Territorium der NATO gegen Raketenangriffe zu schützen“. Gleichzeitig wurde Russland ein halbherziges Kooperationsangebot gemacht. Die BMD-Architektur in Europa befindet sich in einem unausgereiften Anfangsstadium und bietet heute bestenfalls eine Punktverteidigung. Ziel ist, Nuklearraketen aus dem Iran abzufangen, die bis heute nicht existieren. Auch die vorhandenen Aegis-Radare der US-Marineeinheiten im Mittelmeer, die Bestandteil dieser Architektur sind, sind nicht effektiv und zur Unterscheidung von Sprengköpfen und Attrappen ebenfalls nicht geeignet. Um einen „Rundumschutz“ zu gewährleisten, wären erhebliche Investitionen auch der Europäer nötig, was angesichts der Finanzkrise kaum machbar sein wird. Die Obama-Administration ihrerseits hat – nicht zuletzt ebenfalls aus Kostengründen – die ursprünglichen EPAA-Pläne spürbar reduziert. Und Russland hat die Kooperationsangebote bis heute nicht angenommen, so tieft sitzt die russische Paranoia angesichts des langen Schattens von SDI. Obwohl BMD im Sinne umfassender Sicherheit vor Nuklearangriffen eine Illusion ist, glaubt man in Moskau offenbar ebenfalls an die Zauberkräfte amerikanischer Technologien. Am einfachsten bleibt es da für den Kreml, eine immer noch große Zahl eigener Nuklearwaffen zu behalten, also weitere nukleare Abrüstung abzublocken.
Wäre es nicht klüger, sich gemeinsam zu überlegen, wie man Staaten wie Iran und Nordkorea besser eindämmen kann und wie man das nukleare Damokles-Schwert grundsätzlich abschafft? Dann erledigte sich auch die Illusion von BMD. Der berühmte amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918-1988) schrieb: „Für eine erfolgreiche Technologie muss Realität den Vorrang vor Public Relations haben, da die Natur nicht getäuscht werden kann.“ Damit beschrieb er quasi vor der Zeit das Dilemma jeglicher BMD seit SDI.
Manche NATO-Beamte verharren jedoch offenbar lieber in überkommenen ideologischen Denkstrukturen, ohne historische Dokumente oder aktuelle Studien zu studieren. Die Kategorien des Kalten Krieges ist eben längst nicht ausgestorben, weder in Russland noch bei der NATO.
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