von Frank-Rainer Schurich
Als der Vorortzug 1360 Hamburg-Altona-Blankenese am 10. November 1906 gegen 16 Uhr in den Bahnhof Blankenese eingelaufen war, fand ein Schaffner im Abteil der II. Klasse den bewusstlosen Zahnarzt Dr. Claußen mit zertrümmertem Schädel. Das Opfer, dessen Wertsachen (goldene Uhr nebst Kette, Portemonnaie, Brieftasche, mehrere Schlüssel, Handtasche) fehlten, starb in den Armen des herbeigerufenen Mediziners: Raubmord! Die Tat konnte nur während der kurzen Fahrzeit von etwa 15 Minuten auf der Strecke Altona-Blankenese geschehen sein.
Der Verdacht fiel schnell auf einen gut gekleideten jungen Herrn, der in Klein Flottbek um eine Nachlösekarte bat – mit blutigen Händen. Auf die Frage des Bahnhofsassistenten, warum er blutige Hände habe, antwortete der Mann: „Ja, ich habe Nasenbluten gehabt.“
Die Personenbeschreibung des Bahnmitarbeiters war so gut, dass Kriminalbeamte den 17-jährigen arbeitslosen Gärtnergehilfen Thomas Rücker rasch auf seiner Altonaer Schlafstelle festnehmen konnten. Als er aufstehen und nach dem Kriminalbüro mitkommen musste, befiel ihn ein Zittern. Thomas Rücker, geboren am 28. Dezember 1888 in Hartmanitz, Bezirkshauptmannschaft Schüttenhofen in Böhmen, katholisch, seit drei Wochen ohne Arbeit, bestritt zunächst die Tat.
Blutflecken an der Kleidung, Pelerine und Schlipsnadel, wie im Signalement beschrieben, und die im Sofa versteckte Uhr des Opfers beseitigten die letzten Zweifel an Rückers Schuld: Er gestand die Tat ein: „Ich will jetzt die Wahrheit sagen. Ich habe den Mord begangen. Ich hatte kein Geld mehr. Ich hatte schon immer geplant, jemanden im Eisenbahnzug zu überfallen, um Geld zu erhalten.“
Tatsächlich hatten sich im Portemonnaie des Opfers 160 Mark befunden. Später gab der Strafgefangene Rücker zu seinem Personalblatt die unterschriftlich vollzogene Erklärung ab: „Raubmord aus Not. Da es mir nicht möglich war, Arbeit zu finden, und ich auch nichts mehr zum Leben hatte, entschloss ich mich, mir auf diese Art Geld zu verschaffen.“ Thomas Rücker wurde am 12. Januar 1907 in Altona „wegen Mordes im rechtlichen Zusammentreffen mit Raub“ zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
Zur Tat selbst hatte Rücker ausgesagt: Er beschloss, den Raub auf der Strecke zwischen Altona und Blankenese auszuführen, weil sie ihm am günstigsten schien. Auf dem Hauptbahnhof Altona erkundete er, dass der Zug, der um 3.33 Uhr nachmittags von Altona abging, am besten passen würde. Der Zug war relativ leer, und Rücker vermutete, dass ein Kaufmann oder ein anderer wohlhabender Mann nach Blankenese herausfahren würde. Aus der Küche der Wirtsleute, des Ehepaars Kossmann, entwendete er das Tatwerkzeug. Das Beil steckte er in die Hose, und zwar oben am Leibe entlang, so dass die Schneide an seinem Leibe ruhte und der Stiel in der Hose nach unten hing. Die Schneide wurde durch den Leibriemen festgehalten, den er um die Hose trug.
Sein späteres Opfer sah er schon im Schalterraum: ein anständig gekleideter Herr mit einer Ledertasche an der Hand. Rücker löste schnell eine Karte II. Klasse nach Groß Flottbek und eilte dann nach der Sperre, um zu sehen, in welches Abteil der Herr einstieg. Rücker stieg ebenfalls in dieses Abteil ein, weil dieser Herr alleine dort saß und Zeitung las. Bis kurz vor Groß Flottbek fehlte ihm der Mut zur Tat. Jetzt stand er auf, stellte sich mit dem Gesicht zum Fenster, so dass der Herr nicht sehen konnte, wie Rücker langsam das Beil aus der Hose herauszog. Dann drehte er sich schnell um, sprang auf ihn zu und schlug ungefähr zehnmal mit der scharten Seite des Beils blindlings auf sein Opfer ein, welches in sich zusammensank.
Als der Zug in Groß Flottbek hielt, hatte er ihn noch nicht beraubt. Um zu verhindern, dass jemand einstieg (jedes Abteil hatte seine eigene Tür), stellte er sich an das Fenster der Bahnsteigseite. In der Tat hatte ein Mädchen beobachtet, dass ein junger Mann am Fenster stand, der Blutspritzer auf der Stirn hatte. Der Zug fuhr wieder an, und Rücker nahm seinem Opfer die Wertgegenstände ab; das blutbefleckte Beil steckte er auf eben beschriebene Weise wieder in der Hose.
Der Zug hielt in Klein Flottbek, und der Mörder stieg aus. An der Bahnsperre sagte er dem Beamten, dass er zu weit gefahren sei. Dieser schickte Rücker zum Stationsvorsteher, dem das Blut an den Händen auffiel.
Nach der Tat schrieb er zur Ablenkung einen ziemlich einfältigen Brief an die Polizei in Altona in verstelltem Deutsch: „Ich haben heut eine Mann auf Bahn tot gemacht. – Warum? Weil sein auswiesen worden kein Geld haht. – Ich waren gut verkleidet. Der Mörder.“ Der Brief trug den Stempel: Hamburg 10. 11. 06. 7 – 8 N.
Am folgenden Tag wollte Herr Kossmann Holz zerkleinern und vermisste sein Beil. Er fragte Rücker, ob er das Beil habe. Dieser gab das Werkzeug in aller Ruhe zurück und erklärte, er habe es zum Öffnen der Schublade im Schrank gebraucht, die klemmte. An diesem Sonntag sah er auch die roten Plakate mit der Auslobung: Es waren 2 000 Mark Belohnung ausgesetzt. Als Rücker die Personenbeschreibung las, wusste er, dass man ihn erwischen werde.
Um seine Angst zu betäuben, ging er in ein Bordell und für vier Mark mit einem Mädchen auf ihr Zimmer; er war jedoch unfähig, den Beischlaf auszuüben. Auch ihre „Hilfe“ (wie sie in der späteren Zeugenvernehmung ausdrückte) nützte nichts. Bei einem nächsten Versuch für 20 Mark klappte es auch nicht.
Kriminalistisch und juristisch bot der Fall Rücker keine Schwierigkeiten. Was ihm eine größere Publizität verschaffte (Friedländer: Interessante Kriminalprozesse Band I, 1910; Wulffen: Psychologie des Verbrechens Band II, 1908), waren seine Eigenarten und sozialen Hintergründe.
Der Raubmord war Anlass, dass in der Folgezeit auf dieser Vorortbahn nur noch Durchgangswagen fuhren. Die Zivilklage, die von den Hinterbliebenen des Opfers gegen den preußischen Eisenbahnfiskus wegen Zahlung einer Haftpflichtsrente angestrengt wurde, hatte übrigens Abweisung erfahren (Urteil des Reichsgerichts vom 22. Oktober 1908).
Rücker war ein Eigenbrötler, der gerne Violine spielte, Alkohol verachtete und zum Philosophieren neigte. Im Verlaufe des Prozesses sind Selbstgespräche bekannt geworden: „Auch der Mensch ist ein Uhrwerk, was aufgezogen wird. Ich bin auch aufgezogen und ich gehe, weil ich gehen muss.“ Der Mangel an Fleiß ließ ihn überall scheitern. In den Beurteilungen war er durchweg „bummlig“, „gänzlich unbrauchbar“ und „lümmelhaft“. In seinen Büchern fand man einen Detektiv-Roman von Nick Carter, in dem ein Raubmord im Eisenbahnzug beschrieben wird. Schnell waren die Gutachter dabei, den Plan zur Mordtat aus der Detektivlektüre abzuleiten.
Im Gefängnis bekam er langatmige, häufig überschwängliche Trost- und Erbauungsepisteln völlig unbekannter Frauen, die ihn „herzlich liebgewonnen“ hatten und als ihr „Patenkind“ ansahen: „Wenn Sie einstmals frei sind, steht Ihnen mein Haus offen.“
Der vom kriminalistischen Standpunkt nicht besonders schwierige Fall wurde in kurzer Zeit gelöst; das Gerichtsverfahren fand zwei Monate (!) nach der Tat statt. Das lag wohl auch daran, dass dieser ungewöhnliche Raubmord im Eisenbahn-Coupé die Öffentlichkeit stark beunruhigte und derlei Verbrechen damals relativ selten waren, so dass die Polizei konzentriert ermitteln konnte. Heute wäre die Strafsache Rücker ein Fall von vielen. Aber die sozialen Hintergründe für derartige Taten reichen bis in die heutigen Tage.
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Hamburg, Kriminalfall