16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

Exorzismus

von Erhard Crome

Die Sozialdemokraten können sich drehen und wenden, wie sie wollen, sie bekommen keine eigene Kanzlermehrheit zusammen. Da ist schon der Steinbrück vor. Bei der „Sonntagsfrage“ per 6. Juni kommen sie auf 27 Prozent Zustimmung, zusammen mit den Grünen auf 41 Prozent. Soviel hat die Christdemokratie allein. Die hat damit zwar auch keine Mehrheit, weil die FDP nach wie vor unter der Fünf-Prozent-Marke klebt, aber der Abstand zwischen den beiden großen Parteien bleibt seit Monaten stabil.
Da denkt sich der Gabriel offenbar, wenn die Merkel immer sozialdemokratischer wird, können wir auch immer bürgerlicher. Vielleicht hilft’s ja. So hieß es jüngst: „Sozialismus ade! Scheiden tut nicht weh!“ Jedenfalls auf der symbolischen Ebene. Die SPD hat die „Sozialistische Internationale“ (SI) satt, und kreiert statt dessen eine „Progressive Allianz“. Da ist kein Sozialismus drin. Dafür konnte man die „Demokratische Partei“ der USA mit an Bord holen und die indische „Kongess-Partei“, die beide ohnehin mit Sozialismus nichts am Hut haben.
Das ist auch ein Abschied von Willy Brandt, der sonst als Schutzheiliger der deutschen Sozialdemokratie immer wieder gern hervorgeholt wird. Im März 2011 hatte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel geschrieben, die SI sei „keine Stimme der Freiheit mehr“. Hintergrund war, dass im Januar 2011 die Parteien des autoritär regierenden ägyptischen Präsidenten Mubarak, die Nationaldemokratische Partei, und die des tunesischen Herrschers Ben Ali, Konstitutionelle Demokratische Sammlung, aus der SI ausgeschlossen wurden. Das geschah allerdings erst nach dem Beginn des Aufbegehrens in den arabischen Ländern – damals hoffnungsvoll oft: „Arabischer Frühling“ genannt. Diether Dehm, Bundestagsabgeordneter der Linken, der 33 Jahre SPD-Mitglied war und die Partei angesichts des Jugoslawien-Krieges 1998 verlassen hatte, nannte diesen Ausschluss „zu spät und peinlich“. Das wollte der Gabriel nun aber nicht auf sich sitzen lassen. Handeln war angesagt.
Es war unter Willy Brandts Präsidentschaft der SI (1976 bis 1992) im Jahre 1989, dass die tunesische Partei aufgenommen wurde. Nachdem die „Sozialistische Internationale“ sich jahrzehntelang als eurozentristische Anstalt mit im Sinne des Kalten Krieges kapitalismusbejahender Grundrichtung profiliert hatte, sollte sie international geöffnet werden, zur „Dritten Welt“ hin und für die nationalen Befreiungsbewegungen beziehungsweise aus ihnen hervorgegangene Parteien in Afrika und Asien. Die tunesische, ursprünglich „Sozialistische Destur Partei“ geheißene Partei des Staatsgründers Habib Bourguiba war eine solche.
Nur hatte über die Jahrzehnte niemand moniert, dass dort zuerst der Sozialismus, dann auch die auf national-staatliche Entwicklung gerichtete Orientierung verschwunden waren und die Macht sich nur noch um sich selbst und ihre Erhaltung drehte. Das allerdings in gutem Einvernehmen mit der Mittelmeerpolitik der EU und ihrem neoliberalen Programm, das auch für die Peripherieländer umgesetzt werden sollte, und ihrer Politik der Flüchtlingsabwehr. Ben Ali hatte alles gemacht, was der Westen von ihm wollte, nur wurde er dann dummerweise durch einen Volksaufstand gestürzt. Und die Sozialdemokratie wollte sich flugs auf die richtige Seite stellen. Im Namen der Werte des Westens wurde nunmehr erklärt, dass solcherlei Mitgliedschaft künftig verunmöglicht werden sollte. Im Vorbeigehen wurde gleich noch die SI für reformunfähig erklärt. Mit der Neugründung wird zugleich der Looser Georgios Papandreou, der an der Finanzkrise gescheiterte frühere Ministerpräsident Griechenlands, der derzeit an der Spitze der SI steht, ausgebootet. Zwar konzediert ihm Gabriel, seine „persönliche und politische Integrität“ sei „über jeden Zweifel erhaben“. Der Gabriel-Text vom März 2011 trägt allerdings die Überschrift: „Keine Kumpanei mit Despoten“; als sei eben doch der Papandreou dafür verantwortlich. Auch bei der SPD wird so – den Gewichtsverlagerungen in der europäischen Machtmechanik seit Ausbruch der Finanzkrise folgend – der Schwerpunkt ins Zentrum verlagert: alle Macht geht von Deutschland aus.
Ausgerechnet die Festivitäten zu 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie in Leipzig im Mai wurden benutzt, um den Teufel Sozialismus auszutreiben und statt dessen die „Progressive Allianz“ aus der Taufe zu heben; benutzt wird allerdings lieber der denglische Titel: „Progressive Alliance“. (Da muss der Vertreter der US-Demokraten nicht denken, die deutschen Sozialdemokraten könnten keine Rechtschreibung.) Gabriel verkündete: „Es gibt keine Alternative zu internationaler Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.“ Das klingt doch viel zeitgeistiger, als „Sozialismus“. Man verkündet viel, aber fordert nichts und verspricht erst recht nichts. Aber dafür mache die Sozialdemokratie „einen neuen Anfang der internationalen Zusammenarbeit“.
Die Neugründung betrieb die SPD in enger Abstimmung mit der britischen Labour Party sowie den niederländischen und schwedischen Sozialdemokraten. Auf Einladung der Demokratischen Partei Italiens fand im Dezember 2012 in Rom ein Vorbereitungstreffen statt, auf dem die Gründung unter der Gastgeberschaft der SPD in Leipzig vereinbart wurde. Es heißt, dass bereits 80 Parteien Mitglied dieser Allianz sind. Dass auch Parteien dabei sind, die – wie die US-Demokraten – nicht aus einer sozialistischen Tradition kommen, war von Anfang an beabsichtigt. Um den Exorzismus noch weiter zu treiben, braucht die SPD später nur das „Sozial“ aus der Demokratie zu tilgen und könnte dann „Demokratische Partei Deutschlands“ heißen.
In den USA haben die beiden abwechselnd regierenden Parteien Wappentiere: die Republikaner den Elefanten und die Demokraten einen Esel. Für SPD und CDU könnte man es zu den diesjährigen Bundestagswahlen auch einmal mit solchen Tierchen versuchen; da Deutschland etwas kleiner ist, müssen sie auch nicht so groß sein: Die CDU bekommt den Igel und die SPD einen Hasen.