von Erik Baron
Welch grandiose Idee, ein intellektuelles Kaleidoskop vom Vorabend des Ersten Weltkrieges zu erschaffen, das Jahr 1913 wie ein rotierendes Prisma zu drehen und die durch permanente Lichtveränderungen entstehenden Spektralfarben als Momentaufnahmen eines zu Ende gehenden Zeitalters einzufangen. Welch grandiose Idee, aber auch welch waghalsiges Unterfangen! Ist diese Prisma-Drehung stark subjektiven Einflüssen ausgesetzt, so dass Illies’ Kaleidoskop nicht nur (s)ein Bild auf das Jahr 1913 wirft, sondern auch und vor allem auf Illies selbst, auf dessen Sozialisation und die Epoche, in der er das Buch geschrieben hat. Vorsicht ist durchaus geboten, wenn die Generation Golf Geschichte zu schreiben beginnt!
An der Hürde eines jeden historischen Rückblicks kommt auch der studierte Kunsthistoriker Florian Illies nicht vorbei: Man sieht immer auch die Jetztzeit mit. Wir, die Gegenwärtigen, wissen, was 1914 geschehen ist, wie mit diesem Jahr eine grundlegende Weltenwende eingeläutet wurde. Die damals Agierenden sonnten sich größtenteils noch in Ahnungslosigkeit. Das macht ein solches Kaleidoskop so schwierig – rückblickende Authentizität gibt es nicht! – das macht es aber auch so spannend!
In anekdotischen Textblöcken arbeitet sich Illies chronologisch durch das Jahr 1913, versucht die Vorahnung aufzuspüren, den Schatten, der sich allmählich über das ganze Jahrhundert zu schieben beginnt. Nicht umsonst bemüht Illies gleich zu Beginn auch Oswald Spengler, der am ersten Teil seines Werkes „Der Untergang des Abendlandes“ schreibt und dem er die großen Worte in den Mund legt: „ Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner?“ Nein, es merkt keiner. Zumindest kaum jemand, den Illies für sein Kaleidoskop zusammengetragen hat. Hin und wieder huschen Schattengestalten durchs Buch, treffen sich in Gestalt von Hitler und Stalin (auch Tito soll in der Nähe gewesen sein) im Park von Schönbrunn in Wien, neben Berlin, Paris und München eine der „vier Frontstädte der Moderne 1913“. Aber die Intellektuellen jenes Jahres waren mehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie den düsteren Prophezeiungen eines Oswald Spenglers oder den aufziehenden Schattenwolken selbst Glauben schenken wollten. Und dennoch scheint das „nervöse Zeitalter“, wie Kafka es bezeichnet hat, im Inneren eines jeden Akteurs zu brodeln. Es scheint ein Tanz auf dem Vulkan zu sein, den sie gemeinsam bestreiten, ohne dass sie ahnen, dass die Erhöhung auf der sie sich befinden, jener Vulkan ist, der im Jahr darauf mit aller Gewalt ausbrechen wird. So zumindest hat Florian Illies sein Buch komponiert: Das Brodeln des Vulkans nimmt man als Leser (Achtung: das Wissen der Gegenwart liest mit!) nur unterschwellig wahr, vereinzelt schiebt uns Illies kleine Textblöcke unter, in denen das Politische Einzug hält – so wurde beispielsweise am 18. Oktober 1913 das Völkerschlachtdenkmal mit einer martialischen Jubelfeier eröffnet.
Ansonsten jedoch agiert die Bohème unter sich, entdeckt mit dem psychoanalytischen Übervater Sigmund Freud das eigene Unterbewusstsein und nimmt den Generationskonflikt, der in der Kunst als modernistischer Paradigmenwechsel daherkommt, als ödipalen Vatermord wahr. Und auch Freud selbst wird Opfer eines Vatermordes: in jenem Jahr kommt es zum Bruch mit seinem Schüler C.G. Jung, einen Bruch, den wir als Leser über Monate hinweg in anekdotischen Schüben mit begleiten dürfen. Wie auch die Konflikte jener Künstlerpaare, die Illies zum großen Jahrhundertstelldichein geladen hat: Franz Kafka, der seiner Geliebten Felice Bauer seitenlange Heiratsanträge schreibt, die eine Frau nur ablehnen kann; Oskar Kokoschka, der der jung verwitweten Alma Mahler verfallen ist und ihr zunächst ein Meisterporträt schaffen soll, wenn er sie heiraten will; Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, jenes ungleiche Paar, das sich vor allem in Worten geliebt hat; oder Rainer Maria Rilke, dieser „Hohepriester der Unaussprechlichkeit“, der sich in seiner Beziehungsunfähigkeit gefällt und sich dennoch in Lou Andreas-Salomé verliebt hat – all jenen intellektuellen Koryphäen des letzten Jahrhunderts verhilft Florian Illies zum gemeinschaftlichen Auftritt in seinem Buch, verknüpft geschickt und unaufdringlich deren Lebensgeschichten so miteinander, dass sich ein spannendes Zeitenpanorama vor uns eröffnet. Wir erleben den Zusammenbruch der Künstlergruppe „Brücke“, Schönbergs „Watschenkonzert“, in dem er als Dirigent geohrfeigt wurde, die Uraufführung des „Woyzeck“ im Münchener Residenztheater oder das Auftauchen des Suprematismus von Malewitsch, was Illies zu der metaphorischen Bemerkung veranlasst: „Man sollte immer auch an das „Schwarze Quadrat“ denken, wenn man an das Jahr 1913 denkt.“ Es kristallisiert sich eine künstlerische Kerntruppe heraus (Kafka, Rilke, Lasker-Schüler, Freud, Benn, Kokoschka, Schnitzler, Thomas Mann, Trakl), die die Monate über immer wieder zu ihrem Auftritt kommt. Und um diese Kerntruppe herum platziert Illies alles(?) was intellektuellen Rang und Namen hat. Und genau hier setzt das große Fragezeichen ein! Einerseits schließt sich nach und nach das anekdotische Mosaikbild, das Florian Illies für sein „1913“ geschaffen hat und verströmt den intellektuellen Hauch künstlerischer Avantgarde jener Epoche. Andererseits reißt dieses sich formende Mosaik mit fortlaufender Chronologie immer mehr Lücken auf. Die Auswahl und Wichtung, die Illies vornimmt, unterliegt teils schwer nachvollziehbaren subjektiven Intentionen. Das ist bei solch einem Projekt nicht anders zu bewerkstelligen. Je größer die Auswahl, desto größer allerdings auch die Lücken! Umso wichtiger ist es, die Lücken aufzuzeigen und zu hinterfragen:
Lebte die intellektuelle Avantgarde jenes Jahres 1913 tatsächlich so apolitisch und ahnungslos, wie bei Illies nachzulesen? Gab es kein politisches Aufbegehren gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse? Warum erfährt der Leser kein Wort über Erich Mühsam, der von 1911 an in München die Zeitschrift „Kain“ herausgibt? Warum erscheint Franz Jung nur als Mieter jener Wohnung, in der Otto Gross verhaftet wird? Hatte er sich nicht, bevor er 1913 nach Berlin zog und dort eine Zeitschrift für psychoanalytische Probleme des Anarchismus plante, in München dem Kreis von Erich Mühsam und Gustav Landauer angeschlossen? Lebte Stefan Zweig in jener Zeit nicht auch in Wien und pflegte regelmäßigen Briefkontakt mit Paul Zech und Romain Rolland? Kein Wort darüber. Und begann Carl von Ossietzky 1913 nicht seine umfangreiche Publizistik? Gibt es über Käthe Kollwitz nicht mehr zu berichten als ihre Eheprobleme? Was machte Ernst Barlach? Wie sah Heinrich Zille in Berlin die gesellschaftliche Situation? Erschien 1913 nicht auch Rosa Luxemburgs theoretisches Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“? Illies lässt den Leser im Dunkeln. Diesen linksavantgardistischen, politisch radikalen Geist blendet er vollständig aus. Stattdessen finden wir augenzwinkernd solch fundamentale Kurz-Textblöcke wie „Rainer Maria Rilke hat Schnupfen“ oder „Josef Stalin friert in seiner sibirischen Verbannung“. Oder: warum ist Florian Illies die Nennung der Geburtstage von Gert Fröbe, Peter Frankenfeld, Robert Lembke, Josef Filbinger oder Marika Rökk wichtig, währenddessen er Stefan Heym unter den Tisch fallen lässt?
Nun hegt ein solches Jahrhundert-Kaleidoskop keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, allein eine Tendenz ist durch die getroffene Auswahl nicht zu übersehen. Und die trägt nun einmal die Handschrift von Florian Illies.
Eigentlich kann man mit einem solchen Jahrhundertprojekt nur scheitern – vor allem, wenn das rotierende Prisma plötzlich stehen bleibt und/oder der Lichteinfall ausbleibt. Und diese Gefahr besteht nun einmal im Moment der Herausgabe des Buches! Es läutet den Stillstand ein, droht den Blick auf jene Zeit statisch werden zu lassen. Illies’ Buch kann nur ein Anfang sein. „1913“ muss fortgeschrieben werden!
Florian Illies:1913 Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012, 319 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: 1913, Avantgarde, Erik Baron, Erster Weltkrieg, Florian Illies