16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

Babyfotos in der Zeitung

von Henry-Martin Klemt

Fast in jeder Ausgabe in unserer Wochenzeitung Der Blickpunkt haben wir Fotos von Babys, die im Klinikum Frankfurt-Markendorf zur Welt kamen. Wer schaut sich solche Bilder an? Natürlich die Mütter und Großmütter, die Väter und Großväter, sicher auch die Kinder selbst, wenn sie einmal größer sind. Dann ist solch eine alte Zeitung ein guter Anfang, um Geschichten zu erzählen von damals. Also von jetzt.
Aber nur deshalb müsste man die Bilder ja noch nicht veröffentlichen. Weshalb schauen wir uns die Fotos fremder Kinder an, weshalb sagen wir: „Schau doch mal“ und: „Ist der nicht süß“?
Ich glaube, in diesen Fotos liegt eine Magie. Etwas, das uns im Innersten trifft, das uns angeht, auch wenn nicht wir diese Kinder großziehen werden. In diesen Fotos liegt etwas, das uns betrifft von Anfang bis Ende.
Manche Mamas, wenn sie von der ersten Begegnung mit ihrem eigenen Kind berichten, kurz nach der Geburt, mit diesem zerknautschten, verfärbten, feuchten kleinen Wesen, erzählen, es habe sie angesehen, als wäre es uralt, als trüge es alle Weisheit der Welt in seinen Zügen, als brächte es von irgendwoher etwas mit, das wir schon vergessen haben oder noch gar nicht wissen.
Das mag so sein oder auch nicht. Auf jeden Fall verkörpern diese kleinen Menschen unsere eigene Sehnsucht nach Anfang. Sie sind so frei, so voller Vertrauen, wie nur jemand sein kann, dem noch nichts Arges geschehen ist. Sie schlafen oder blicken ins Leben, als wäre es nicht nur das Natürlichste der Welt – was es ja ist – sondern auch das Einfachste. Sie erwarten nicht einmal etwas. Sie wissen: Alles ist da. Die warme Haut der Mama, die Milch, das Licht, Stimmen und Gesichter, die sie wieder erkennen. Und sie leuchten selbst, sie duften selbst, ihre Haut ist noch viel weicher als die unsere. Sie müssen unseren Schutz nicht erbitten, sie müssen nicht danken dafür. Dass sie da sind, ist das größte Geschenk, das wir bekommen können.
So wird es nie wieder sein. Es kommen Jahre, da scheint es uns manchmal, als wäre alles vergeblich gewesen. Die durchwachten Nächte, die guten Ratschläge. Aber eines Tages kehrt alles zurück. Eines Tages sehen wir alles wieder. Jede Zärtlichkeit, jede Grobheit, jede Lebenskunst und jedes Versagen fällt auf uns zurück. Ob das eine Drohung ist oder eine Verheißung, das liegt bei uns.
Wer Kinder macht, lässt sich auf das Wagnis ein, irgendwann in den Spiegel zu schauen. Nein, unsere Kinder werden nicht so sein wie wir. Langweilig wäre die Welt, wenn das so wäre. Ja, unsere Kinder werden so sein wie wir. Wie wir vielleicht wären in anderen Umständen und Zeiten.
Zuerst erkennen wir unsere Fehler in ihnen wieder, aber später dann sogar das, was wir nicht so gern zeigen, was uns stumm macht und zum Weinen bringt, was uns unablässig treibt durch die Welt. Irgendwann zeigen sie uns, was wir eigentlich wollten.
Das beginnt immer wieder, aber dass es beginnt, braucht es nicht nur die Liebe, sondern auch den Mut zweier Menschen.
Wir schauen uns diese Fotos an von den Babys in unserer Zeitung, weil mit jedem neuen Menschen die Welt von vorne beginnt und weil wir erfahren haben, dass unsere Welt diesen Neuanfang braucht. Immer wieder.
Kleine Menschen darf man nicht aus den Augen lassen. Um den Preis der eigenen Bequemlichkeit nicht und nicht um den Preis des eigenen Schlafes. Immer muss man Acht geben auf sie.
Wer Ja gesagt hat zu einem Kind, hat sich in wunderbarer, ungestümer Ungewissheit in ein Abenteuer gestürzt. Hat Ja gesagt dazu, dass das eigene Leben sich ändert. Von Grund auf beim ersten und folgenreich noch immer bei jedem weiteren Kind.
Wie gut, dass vieles sich gar nicht voraus sehen lässt. Wie gut, dass die vielen Herausforderungen, die wirklichen Bewährungsproben vor uns hintreten ohne jegliche Vorwarnung. Müssten wir sie alle voraus bedenken, abwägen, nach Nutzen und Effizienz befragen, wir könnten über dem Grübeln das Handeln vergessen.
Kinder sind da. Wir sind da. Das geht schon zusammen.
Aber es sind ja nicht nur die Fiebernächte, die wir am Bettchen der Kinder verbringen, es ist nicht nur das Mitleiden von den ersten Zähnen bis zur ersten Sechs in der Schule. Das Risiko, das Eltern auf sich genommen haben, ist auch bedrohlich. Wer heute in Deutschland ein Kind bekommt, ist eher durch Armut bedroht als jeder andere. Und schon heute wächst jedes dritte Kind in Frankfurt (Oder) in Armut auf. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch, wie bundesweit sonst nur noch in Bremerhaven: 14,7 offiziell zugegebene Prozent.
Wenn dann so Sätze fallen, wie: Jeder ist seines Glückes Schmied, und ich sehe die alleinerziehenden Mütter, die um alles kämpfen, um Liebe und Respekt, um ihren Beruf und um ihr Auskommen, um ihr Kind und für ihr Kind, dann sind die Verhältnisse alles andere als in Ordnung.
Wie schmiedet man denn Glück? Wie schmiedet man ein Lächeln? Wie schmiedet man einen Kuss? Familien werden zerrissen, weil ein Geldverdiener sich auf nach sonstwohin macht, und die anderen sitzen da und warten, damit sie sich am Samstag dran erinnern können, wie er aussieht.
Glück muss etwas anderes sein, sagt sich so mancher, und sehr viele haben erst in Gedanken und dann in Wirklichkeit schon die Koffer gepackt. Bloß raus aus Frankfurt. Von 95.000 sind 58.000 geblieben. Ich auch. Aber kann ja sein, dass es anderswo besser ist.
Die Politik ist den Kindern nicht unähnlich in manchen Dingen. Man darf sie nicht aus den Augen lassen. Nicht um den Preis der eigenen Bequemlichkeit, nicht um den Preis unseres Schlafes. Eine kleingeistige Politik wird selten großherzig sein. Darauf lohnt nicht zu hoffen.
Wenn wir nicht mit eisernen Hämmern totgeschlagen haben, woraus Glück wird mit etwas Glück, dann gibt es Menschen in unserer Nähe, hochherzige Menschen, auch solche, die Politik zu machen versuchen. Engagierte Menschen. Selbstlose Menschen.
Wenn wir, die Erwachsenen, resignieren, dann resignieren wir nicht an den Verhältnissen, die uns beherrschen, sondern an uns. Wenn jemand seines Glückes Schmied nicht ist, seines Unglückes Schmied wäre er allemal.
Vielleicht gibt es Momente, in denen es wirklich gut ist, sich Kinderbilder anzuschauen. Am besten die Bilder der eigenen Kinder. Dort sind wir gewesen. Das haben wir gemacht. Die Lage scheint ausweglos? Zu meinen Kindern habe ich dann gesagt: Es ist ein Abenteuer, lass uns den Heimweg suchen, den Weg nach Haus. Ein Zuhause hat jeder, denn jeder hat es in sich.
Feiern wir unser Glück! Dass ich dabei war, als meine Tochter zur Welt kam, wird mir nie jemand nehmen. Die Welt hat mit ihr von vorne begonnen, wie schon mit meinem Sohn. Mit jedem Menschenkind beginnt sie von vorn.
Unsere Kinder werden sich die Welt einrichten, nicht wie ein Paradies, aber doch so, wie sie es verstehen. Wenn man ihren Namen nennt mit Liebe und Respekt, wird es uns ehren. Wenn sie etwas tun, was vorher noch niemand getan hat, wird man sich unsrer erinnern. Wenn sie einfach nur ihren Weg gehen, erhobenen Hauptes und offenen Herzens, ihre Arbeit tun, ihrer Liebe folgen, ihr Leben gestalten, dürfen wir stolz sein auf sie – und auf uns. Um mit den Worten des Dichters Reinhard Weisbach zu sprechen:

Haltet euch nahe
Bei euren Kindern.
Streichelt ihr Lachen.
Tröstet ihr Weinen.
Bessres als Kinder
Ist nicht zu machen.