16. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2013

Gruß zurück

von Fritz E. Gericke

Lieber Herr Tucholsky – , lieber Kurt – ,
… und schon sitz‘ ick in der Klemme, ick weeß nich so richtig, wie ich Sie anreden darf: „Herr Tucholsky“, dat klingt so weit weg, so fremd, aber Sie sind mir gar nicht so fremd – oder doch? Aber „Kurt“, det is so vertraulich, und det weeß ick nich, ob Se det woll‘n.
Erinnern Se sich – 1926? Also ick kann mir da an nischt erinnern, denn da wa ick noch jar nich off de Welt. Ick kam erst zwee Jahr später. Aber Sie, sie ham da nen „Gruß nach vorn“* jeschrieben, an die, die 1985 mehr oder wenijer zufällich det Buch in ne Bibliothek finden. Ick hab det Buch schon lange, und ick brauchte Ihnen mal wieder. So richtig jut jeht et mir nich, und da ist Tucholsky so wat wie Medizin vor mir.
Und da steht er nu, der „Gruß nach vorn“. Kennen tu ick ihn ja schon, aber ick hatte noch nie das Bedürfnis zu antworten – bis heute. Und nu jeht et mir wie Ihnen, ick will, aber ick weeß nich so richtig wie. Am 21. Dezember 1935, da war ick jerade mal sieben Jahre alt, da sind Se von dieser Welt jejangen. Allet wat danach kam, is für Sie nich erlebte Zukunft und für mich überlebte Verjangenheit, und et war ne Masse, det könn’se mit glooben. Det zu erzählen reicht mir de Kraft nich.
Also 1933 kamen die Nazis, aber die kennen Sie ja schon. Bloß, dat die noch viel schlimmer waren, als wie die, die sie schon vorher nicht leiden konnten, auch nur jedacht haben. Aber den Anfang haben Se ja noch mitbekommen, und dat hat Ihnen wohl schon jereicht, um dieser Welt Lebewohl zu sagen. Wer denen nicht passte aus politischen oder „rassistischen“ Gründen kam in sojenannte Konzentrationslager, wurde mit anderen in Gaskammern umjebracht oder einfach totjeschlagen oder vegetierte erbärmlich in Gefängnissen und Zuchthäusern dahin. So ging det Millionen von Menschen.
1939 begann der Zweite Weltkrieg. Deutschland siegte und siegte, die Nazibande mordete und mordete. Fast janz Europa hatten se besetzt, zusammen mit dem Duce, dem italienischen Adolf, und noch so einigen Nazikombattanten aus den besetzten Ländern. Fast bis Moskau sind die damals jekommen. Dann ging’s zurück. Wie Deutschland danach aussah, kann man nich beschreiben, aber Bilder jibt’s davon, die lassen einen noch immer schaudern. Ick brauch die Bilder nich, ik hab’s ja selber jesehen. Berlin – nischt hättste mehr wieder erkannt, Hamburg, Dresden; Köln – wie ausradiert, und die, die einmal die Herrenmenschen spielen sollten, die liefen in Lumpen, abjemagert, obdachlos, hilflos durch die Straßen. Ick kann’s wirklich nich beschreiben – vastehste? Sie waren befreit und bejriffens nich – jedenfalls die meisten. Deutschland jab’s nich mehr, et jab nur noch vier Besatzungszonen: von die Amis, von die Engländer, von die Franzosen und von die Russen. Heute jibt et Deutschland wieder, aber det is ne lange Jeschichte. Erzähl ick Dir später mal.
Jetzt will ick vasuchen, Dir zu antworten. Det andere hab ick nur erzählt, um Dir zu sachen, dat die Zeit zwischen damals und heute wie een Jebirge zwischen uns liegt. So wie die Pyrenäen, über die Du so toll jeschrieben hast. Ick bin dann ooch dajewesen. Mit’s Auto. Is allet so jekommen, wie Du jeschrieben hast. Andorra sieht so aus, wie Du jedacht hast, das es mal aussehen wird, wenn erst mal ‘ne Straße und die Eisenbahn dort hinführen. Ick jloobe, jefallen würde es Dir nich, – obwohl, so wie es war, konnt’s ja ooch keinem jefallen. Jejen det Neue warste ja eijentlich nich, aber skeptisch warste dennoch. Im Jrunde jeht et mir jenauso. Könnte alles so schön sein, is et aber nich.
Naja – und enge is es jeworden. Damals – also zu Deiner Zeit, da jab es noch keene zwei Milliarden Menschen auf der Erde, un nu, heute – da sin wor über sieben Milliarden. Det musste Dir mal vorstellen. Und die brauchen alle wat zu essen. Die reichen Länder haben ja jenuch, aber die armen… In den reichen Ländern da werden Lebensmittel vernichtet, weil et zuviel jibt, und in die armen Länder verhungern se. Und weil et immer mehr Menschen jibt, jibt es ooch immer mehr Schweine und Rindviecher, ick meine die vierbeinijen, denn mehr Menschen brauchen ja mehr zu essen, und Fleisch steht da janz oben. Mehr Menschen brauchen mehr Platz, mehr Viehzeug braucht aber auch mehr Platz, und vor allem brauchen die Tiere ja ooch wat zu fressen, also wird immer mehr für det Futter anjebaut, und die Wälder, die unser Klima regeln und uns mit Sauerstoff versorijen, verschwinden. Irjendwie wird wohl auch mal die Luft ziemlich knapp. In vielen Jroßstädten, und das sin Jroßstädte, kann ick Dir sachen, is das schon so wejen der vielen Autos und der Industrie.
Technisch hat sich unheimlich viel verändert. Übrijens die Stahlinseln, von denen Du erzählst, die jibt es tatsächlich, aber nich damit da een Flieja festmachen kann, nee, da wird nach Öl jebohrt auf Teufel komm raus, und det unter Wasser. Det hättste nich jedacht. Is aber so. Öl is der Schmierstoff der Welt, un nu wird et langsam alle. Un nu suchen se, wie et weiterjehen soll und machen Öl aus Jetreide, wo die Menschen schon nich jenuch zu fressen ham – zu essen, Entschuldijung! Un nu wollen se den Wind nutzen und das Wasser und die Sonnenenerjie und die Welt, unsere Erdekugel, wollen se anzapfen, wegen die Energie die da im Inneren is. Ob det jut jeht? Ick weeß et nicht.
Aber weißt Du, wat die Menschen heute bewegt? Et is datselbe, wie damals. Fernsehen, det hab ick nich jewusst, dat Euch ooch schon det Fernsehen beschäftigt hat, nur det da der Compter dazujekommen is, den Du noch nicht kanntest, so ne Art Roboter. Telefon hättste jetzt ooch in die Pyrenäen in de Westentasche bei Dir jehabt, um mit Deinem Freund von der Kanalisation in Hamburg zu telefonieren, um ihm von Deinem Abenteuer in der Schlucht zu berichten, und wenn Du in den Bach jefallen wärst, dann hättste nur det Telefon anmachen müssen, und die hätten Dich jefunden, bloß weil det Telefon anjewesen wäre. Heute kann jeder wissen, wo jeder is, wenn er det wissen will. Scheen finde ich det nich. Aber sonst is alles beim Alten jeblieben: Krieg, Folter, Mord, Hunger, Arbeitslosigkeit, die Reichen werden immer noch reicher und die Armen bleiben arm oder werden noch ärmer. Der einzige Unterschied is, det wir die Armut und das Elend der janzen Welt „live“, wie et so schön heißt, im Fernsehen beim Abendbrot jenießen können. Manchmal denk ich, Du würdest heute jenauso leiden, wenn nicht noch mehr, wie damals. Anders sind die Zeiten jeworden, aber nich besser, jedenfalls nicht für die jroße Masse.
Du fragst nach dem Völkerbund. Völkerbund is nich mehr, stattdessen haben wir die Vereinten Nationen. Die können schon mal da und dort eingreifen, wenn die janz Jroßen et zulassen, weil se vielleicht ooch Ruhe haben woll’n oder weil se besondere Interessen haben. Aber der Krieg jeht überall auf der Welt weiter.
„Paneuropa“? Den Begriff kennt heute kaum noch eener, trotzdem, da hat sich wat jetan und tut sich noch. Jetzt haben wird die EU, det heeßt Europa Union, Da sin fast alle europäischen Staaten dabei, und Deutschland mittenmang spielt ‘ne janz schön mächtige Rolle. Dat hätt’ste nach dem Krieg nich jedacht. Richtig funktionieren tut’s nich. Aber Krieg haben wir nur noch mal auf dem Balkan jehabt, is ooch noch nich janz vorbei. Aber de Franzosen, die Du ja so jemocht hast, und die Deutschen können janz jut miteinander. Die Jeschichte mit dem Erbfeind scheint ausjestanden. Aber mit Problemen befassen die sich in der EU, davon hättste nich zu träumen jewagt: Die bestimmen jetzt, wie krumm eine Banane sein muss, damit sie als Banane anerkannt wird. Dafür durften Jurken nich mehr einfach so wachsen, wie sie wachsen, die sollten jerade sein. Naja, dat hamm se jetzt wieder jeändert, aber Äpfel dürfen weder zu klein sein noch zu jroß sein, und vor allem dürfen se keene Würmer haben. Alles schön einheitlich. Und die Milch jibt‘s ooch nich mehr von der Kuh, die muss erst homogenisiert und pasteurisiert und sterilisiert werden, damit die Menschen nicht krank von die Milch werden. Aber krank werden se trotzdem, und sterben müssen se ooch noch. Älter werden se, älter als zu Deiner Zeit. Und je älter sie werden, desto länger bekommen sie Rente. Det is een Problem für uns und ooch für die Regierung. Aber das wird jetzt anders, Jetzt müssen se eben länger arbeiten, ooch wenn jar keene Arbeit mehr für sie da is. Dat heeßt, da wär schon welche, aber die kann keener bezahlen, also müssen die Leute länger arbeiten, wat aber nich jeht, weil et keene bezahlte Arbeit jibt, also werden se arbeitslos und damit bekommen sie später weniger Rente, die reicht dann nich, und dann müssen se zur Fürsorge, un da macht dat Leben ooch nich mehr soviel Spaß. Un die, die tatsächlich länger arbeiten, weil se dafor bezahlt werden wern wahrscheinlich dann doch nich so alt. So lösen wir heute unserer Probleme – vielleicht. Und Ihr? Habt Ihr’s besser jemacht?
Aber so janz hattest Du mit Deiner Skepsis, was die nachfolgenden Generationen betrifft, doch nich recht. Die Menschen wissen durchaus von den Weltkriegen, jedenfalls mehr als Du denkst. Das macht, weil es Bilder gibt, laufende Bilder, Filme und Fernsehen vierundzwanzig Stunden am Tag von wer weiß wie vielen Sendern. Ich denke, heute wissen mehr Menschen von den Kriegen, die jewesen sind und von der Vergangenheit, als die, die damals mitjemacht haben. Die haben nur det kleene Stück erlebt, wo se drin waren, jetzt aber sehen sie, was überall auf der Welt so passiert ist und was passiert. Det macht se aber nicht schlauer, sondern se sehen es, und es interessiert sie jar nich mehr, weil se meinen, se können ja doch nischt dajejen tun. Det is die Tragik unserer Zeit. Aber den ollen Bismarck kennen se doch noch, wenigstens von de Schulzeit her, den ham se nich vajessen, wie Du jedacht hast, besser als Rathenau oder Scheidemann und so.
Naja, nischt für unjut. Ick muss jetzt mal wieder jehn. Und klar geb‘ ich Dir die Hand, jerne sogar, und ick bin sogar een bisschen stolz drauf. Hast Du mir wirklich zujehört?
Und det stimmt: Besser sin wir nich als Ihr, aber Ihr ward ooch nicht besser als wir. Is det tröstlich? Na ick weeß nich.
Jedenfalls jut war et, dat et Dich jejeben hat und dat et Dich dank Deiner Bücher immer noch jibt.

Dein Fritze Jericke

* – Gruß nach vorn

von Kaspar Hauser

Lieber Leser 1985 – !

Durch irgendeinen Zufall kramst du in der Bibliothek, findest die „Mona Lisa“, stutzt und liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem damaligen sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders … Ich setze dreimal an: jedesmal mit einem andern Thema, man muß doch in Berührung kommen … Jedesmal muß ich es wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bißchen über den Zeitpegel … da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben und meine Grammatik und meine Haltung … ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gerne. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen ist … nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du weißt alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt? Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.
Soll ich dir Schmeicheleien sagen? Ich kann es nicht. Selbstverständlich habt ihr die Frage: „Völkerbund oder Paneuropa?“ nicht gelöst; Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt ihr fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid ihr genau so dumm, genau so klug, genau so wie wir. Was von uns ist geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, in dem, was du in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, dass es hinüberkam; was wirklich groß ist, davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bißchen, im Museum. Es ist so, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. „Ja? gehts gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hat es wohl sehr gezogen … ?“ und was man so sagt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich „Bismarck“ sage und du dich erst erinnern mußt, wer das gewesen ist, grinse ich schon heute vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit sind … Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen wollen.
Guten Tag. Dies Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern … nun, es ist auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie ihr das Ding dann nennt. Wir haben uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt, unser Inhalt ist mit uns dahingegangen. Die Form war alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand.
Und jetzt gehst du.
Aber das rufe ich dir noch nach: Besser seid ihr auch nicht als wir und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine –

Die Weltbühne, Nr. 14/1926.