von Wolfgang Brauer
Lange Jahre betrachtete er die „Forschung als den einzigen Weg, das Geschehene zu verarbeiten“. So äußerte sich der israelische Historiker Otto Dov Kulka im Gespräch mit dem „Journal“ von SWR 2 über seinen jahrzehntelang zumindest in der Öffentlichkeit ausschließlich fachwissenschaftlich erfolgten Umgang mit der Shoa. Jetzt, in seinem achtzigsten Lebensjahr, legte der in der Tschechoslowakei Geborene in der Deutschen Verlags-Anstalt ein Erinnerungsbuch vor, das streng genommen kein Erinnerungsbuch ist: „Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“. Der knapp 150 Seiten umfassende Text verschmilzt die Kindheitserinnerungen des Erwachsenen mit dem reflexiven Denken des Historikers. Ich möchte jeden vorwarnen. Man erwarte nicht eine der gewohnten, Authentizität behauptenden und das Geschilderte populärwissenschaftlich erläuternden Autobiographien. Otto Dov Kulka hat eine solche nie geschrieben. Man mag das bedauern, aber er wusste als Geschichtswissenschaftler um die Gefahren solch Unterfangens. „… der Abstand, den ich mir beim Umgang mit der Geschichte dieser Epoche angewöhnt habe“, schreibt er, „zwang mich wohl, im Hinblick auf diese letzte gewaltsame Phase dieser Geschichte jegliche persönliche Teilnahme zu vermeiden.“
Die gleichsam äußere Hülle der chronologischen Erinnerungen kommt in seinem Buch vergleichsweise kurz weg und lässt sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen. Im September 1943 wird der zehnjährige Knabe mit seiner Mutter von Theresienstadt, die Vorgeschichte der Deportation erzählt Kulka nicht, nach Auschwitz verschickt. Und dieser Transport wurde nicht auf die übliche Weise „selektiert“: „Bei unserem Transport kamen jedoch alle ins selbe Lager, man hat unser Haar nicht rasiert, hat uns unsere Kleider gelassen und die Häftlinge, die schon länger hier lebten, erklärten uns, dies sei eine Seltsamkeit, die keiner verstehe.“ Der Autor erklärt diese „Seltsamkeit“ in einem in den Anhang des Buches aufgenommenen Aufsatz, der bereits 1984 in einem in Jerusalem erschienenen Sammelband unter dem Titel „Ghetto im Vernichtungslager: Jüdische Sozialgeschichte zur Zeit des Holocaust und ihre Grenzen“ veröffentlicht wurde. Dieser Theresienstädter Transport, 5.000 Menschen, kam in ein so genanntes „Familienlager“ und alle, soweit sie nicht verhungerten oder an diversen Krankheiten starben, blieben zunächst am Leben. Sechs Monate lang und keinen Tag länger. Zwei weitere Transporte mit ebenfalls je 5.000 Menschen folgten, auch diesen waren genau sechs Monate Überlebensdauer beschieden. Die SS betrieb dieses „Ghetto im Vernichtungslager“, um bei einem vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes angekündigten Besuch diesem eine halbwegs heile jüdische Welt vorgaukeln zu können. Man hatte in Genf vernommen, dass es den Juden im Osten nicht so gut ergehen solle. Das erübrigte sich nach dem 23. Juni 1944. An jenem Tage besichtigte eine Rot-Kreuz-Delegation das Ghetto Theresienstadt. Die von den Faschisten mittels einer „Stadtverschönerung“ betriebene Täuschungsstrategie ging voll auf. In seinem Bericht schilderte der schweizerische IRK-Funktionär Maurice Rossel Theresienstadt als „normale jüdische Stadt“ mit einer funktionierenden Selbstverwaltung. Das Internationale Rote Kreuz verzichtete daraufhin auf die Besichtigung eines „jüdischen Arbeitslagers in Birkenau“. Das „Familienlager“ wurde kurze Zeit später komplett liquidiert.
Otto Dov Kulka überlebte durch Zufälle beide Tötungswellen. Er überlebte gemeinsam mit seinem Vater, Erich Kulka, den Todesmarsch bei der Auflösung des Lagers Auschwitz im Januar 1945. Die Mutter überlebte nicht. Elly Kulka wurde im Juli 1944 nach Stutthof verschleppt. Dort gelang es ihr, kurz vor der Evakuierung des Lagers zu fliehen. Sie starb jedoch auf der Flucht am Fleckfieber. Der Elfjährige sah seine Mutter in Birkenau den Zug besteigen – und sie drehte sich nach dem eigenen Sohn noch nicht einmal mehr um. Das Kind verstand dieses Verhalten nicht. Erst später wurde ihm erzählt, dass die Mutter seinen Bruder in sich trug und wohl das Ungeborene nicht gefährden wollte: „… sie war entschlossen, wenigstens ihn mit sich zu nehmen, wenn wir beide (Vater und Sohn – W. Brauer) bleiben und umkommen sollten.“ Allen war bewusst, dass es aus dieser „Metropole des Todes“ nur einen Ausgang gab, den durch die Gaskammern: „ (es) war hier jedoch völlig klar, dass keiner je lebend herauskommen würde.“ Der Säugling wurde in Stutthof getötet.
Kulka räumt ein, dass er, wann immer er über diesen letzten Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes versucht nachzudenken, den archetypischen Mythos von Orpheus und Eurydike heraufbeschwört: „aber Mutter wandte ihren Kopf nicht, sie ging weg und verschwand.“
Was Otto Dov Kulka in Birkenau widerfuhr, war – wie er selbst beschreibt – „die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“ Als Zehnjähriger erfuhr er den Tod „als eine elementare Gegebenheit, deren Herrschaft über jeden von uns nicht in Frage gestellt werden konnte.“ Birkenau, jene öde Landschaft, die heute so ganz anders aussieht als 1944, deren steinerne Artefakte der Dreiundvierzigjährige bei einem Besuch am Rande eines Historikerkongresses aber sofort zuordnen konnte, bezeichnete er im schon zitierten SWR-Gespräch als „meine Kindheitslandschaft“. Eine Kindheitslandschaft die mit, wie er schreibt „bizarren Episoden“ (so zum Beispiel dem Einstudieren der „Ode an die Freude“ durch den Kinderchor des „Familienlagers“ gleichsam im Widerschein der lodernden Flammen der Krematorien…) in verschiedenen Etappen im Gedächtnis hängen blieb, die „von diesem wohl weiter geformt worden“ seien. Kinder können sich gegen solche Prägungen nicht wehren.
Geradlinige Erinnerungsversuche müssen da wohl scheitern. Rationale Erklärungsversuche zum Beispiel des Bemühens des Leiters jenes Chores des Kinderblocks Imre den schütteren Kinderstimmen angesichts des Höllentores ausgerechnet diesen Schlusschor aus Beethovens Neunter einzubleuen, stoßen auch für den Autoren an ihre Grenzen. Auch Otto Dov Kulka kann dies alles nur bewältigen, indem er, wie er es selbst nennt, seine „private Mythologie“ entwickelte. Dies ist ein sehr persönlicher Versuch, mit dem fertig zu werden, was sein Leben (und das vieler anderer Überlebender) prägte: „Aber ich kann nicht anders, als das, was ich geträumt habe, in meiner Erinnerung erneut zu leben: als die Erinnerung der Verwandlungen des unabänderlichen Gesetzes des Großen Todes – des Markgrafen der Metropole des Todes.“ Imres richtiger Name war übrigens Emmerich Acs; er kam mit demselben Transport wie die Kulkas nach Birkenau und wurde wie fast alle Menschen dieses Transportes am 8. März 1944 in der Gaskammer ermordet.
Der Autor entlässt seine Leser nicht mit einem wohlfeilen „Nie wieder!“ Einen billigen Geschichtsoptimismus vermag er nicht zu verbreiten. „Und Kain schwebt umher. Der Große Tod? Hier, bald, wird die Zeit abermals kommen – seines Reiches, in seiner heutigen Inkarnation…“ Er ist damit sehr nahe an dem beinahe resignativen Befund, den Chaim Be’er in seinem Roman „Bebelplatz“ (2007) angesichts der Möglichkeit der Wiederholbarkeit von in der Geschichte bereits „Erprobtem“ ausstellt. Be’er stellt an den Beginn seines Buches aber einen Gedanken des Rabbiners Salomon Ganzfried aus dem „Kizzur Schulchan Aruch“: „Es kommt aber ganz darauf an, was einer für ein Mensch ist.“ Ich denke, darum geht es Otto Dov Kulka letztendlich auch. Wenn die Schriftstellerin Katharina Hacker in einem Essay in der FAZ erklärt, dass Otto Dov Kulka Auschwitz in einem Zusammenhang verorte, „der uns mit einschließt, uns unmittelbar angeht“, so ist das ein Gedanke, der von einer geradezu erschreckenden Dimension einer Verharmlosung. Das ist aus der Sichtachse des Volkes der Täter heraus gedacht. Hacker wird das sicher empört von sich weisen. Ja, Otto Dov Kulkas Versuche die „Grenzen der Erinnerung“ zu durchbrechen gehen uns unmittelbar an. Eingeschlossen sind wir in diese aber mitnichten. Dieses Buch gehört zu jenen, deren Lektüre uns Deutschen aufgegeben ist – danach sollte man erst einmal schweigen.
Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 192 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Auschwitz, Gedenken, Otto Dov Kulka, Shoa, Wolfgang Brauer