von Carl von Ossietzky
In diesen Tagen beziehe ich ein preußisches Gefängnis, um die achtzehn Monate abzusitzen, die mir der Vierte Strafsenat am 23. November vorigen Jahres wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse zudiktiert hat. Es ist also der Augenblick gekommen, wo ich meine Tätigkeit an der ‚Weltbühne‘ unterbrechen muß. Eine so von außen erzwungene Cäsur ist wichtig genug, um Rechenschaft abzulegen über das, was in den letzten Monaten geschehen ist und zugleich den Hintergrund zu zeichnen, von dem sich der Justizfall „Weltbühne“ abhebt.
[…]
Über eines möchte ich keinen Irrtum aufkommen lassen, und das betone ich für alle Freunde und Gegner und besonders für jene, die in den nächsten achtzehn Monaten mein juristisches und physisches Wohlbefinden zu betreuen haben: — ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin. Ich beuge mich nicht der in roten Sammet gehüllten Majestät des Reichsgerichts sondern bleibe als Insasse einer preußischen Strafanstalt eine lebendige Demonstration gegen ein höchstinstanzliches Urteil, das in der Sache politisch tendenziös erscheint und als juristische Arbeit reichlich windschief.
Diesen Protest lebendig zu erhalten, das bin ich allen denen schuldig, die für mich eingetreten sind, obgleich die Umstände es verweigerten, ihnen genaue Kenntnis von der Materie zu geben. Das bin ich auch den namenlosen proletarischen Opfern des Vierten Strafsenats schuldig, um die sich niemand außer den Parteifreunden gekümmert hat. Denn der Fall „Weltbühne“ ist der einzige seit langem, der eklatant geworden ist und die Öffentlichkeit wirklich erregt hat. Die große Spinne von Leipzig soll einen Bissen zu viel geschluckt haben.
Damit beantworte ich zugleich eine Frage, die mich vom Abend des 23. November, wo ich auf dem Anhalter Bahnhof von einer Deputation journalistischer Ehrenjungfrauen empfangen wurde, bis heute in einigen hundert Briefen und Gesprächen bedrängt hat. Diese Frage heißt ganz simpel: „Mensch, warum türmst du nicht?“
Natürlich bestreite ich das Recht des Publizisten nicht, sich dem Zugriff der herrschenden Gewalten durch die Flucht zu entziehen. Ein Recht, das übrigens jeder unschuldig Verurteilte hat, dem der normale Weg zur Rehabilitation versperrt ist oder der den Glauben an die richterliche Objektivität verloren hat. Es handelt sich aber in jedem Einzelfalle darum, das Wirksamere zu tun. Das allein muß entscheidend bleiben.
Das Reichsgericht hat mich vorsorglich in unangenehmster Weise abgestempelt. Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse — das ist eine höchst diffamierende Etikette, mit der sich nicht leicht leben läßt. Geht man damit ins Ausland, so wird die gesamte Rechtspresse aufjubeln: Zum Feinde geflohen! Und manche von den Leichtschwankenden werden die Achseln zucken: es muß doch etwas an der Sache sein! Der Oppositionelle, der über die Grenze gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen.
Ich gehöre keiner Partei an — wohin also? Keine der Internationalen nimmt mich auf, stellt mich an einen neuen Platz. Es gibt draußen viele flotte Herren, die gern den Frieden hochleben lassen, wenn sie ihr neues Militärprogramm glücklich durchgedrückt haben, und die den deutschen Militarismus so verabscheuen, als wäre er der einzige in der Welt. Sollte der geflüchtete antimilitaristische Deutsche in ihrem Schatten gegen seine Generale und Bellizisten schreiben, das hieße seiner Arbeit einen falschen Akzent geben. Denn dann dient er gewollt oder ungewollt einem fremden Interesse, er wird eines der vielen Mundstücke fremder Propaganda. Er muß zu dem schweigen, was er sieht, um sich über das zu entrüsten, was er hinter sich gelassen hat und was mit der Zeit nicht nur den Augen sondern auch der Urteilskraft entrückt. Der politische Journalismus ist keine Lebensversicherung: das Risiko erst gibt seinen besten Antrieb.
Die „Weltbühne“ hat in langen Jahren für deutsche Angelegenheiten oft die schärfsten und schroffsten Formulierungen gefunden. Sie hat dafür von rechts den Vorwurf der Verräterei, von links den des verantwortungslos krittelnden individualistischen Ästhetentums einstecken müssen. Die „Weltbühne“ wird auch weiterhin das sagen, was sie für nötig befindet; sie wird so unabhängig bleiben wie bisher, sie wird so höflich oder frech sein, wie der jeweilige Gegenstand es erfordert. Sie wird auch in diesem unter dem Elefantentritt des Fascismus zitternden Lande den Mut zur eignen Meinung behalten. Wer in den moralisch trübsten Stunden seines Volkes zu opponieren wagt, wird immer bezichtigt werden, das Nationalgefühl verletzt zuhaben. Die „Weltbühne“ hat immer eine ganz bestimmte und deutlich gezeichnete Haltung eingenommen, und daraus ergibt sich für sie eine besonders verpflichtende Bindung an jene, die auf sie hören und die an sie glauben. Ihre Stimme kann nur Klang behalten, wenn ihr verantwortlicher Herausgeber seine ganze Person einsetzt und dann, wenn es ungemütlich wird, nicht die bequemere Lösung wählt sondern die notwendige.
Etwas ähnliches muß wohl auch das Reichsgericht empfinden. Denn bis zum Vorabend meines Strafantritts hat niemand meine Bewegungsfreiheit beengt, erst heute hat man mir meinen Paß abgefordert. Meiner Abreise stand nichts im Wege. Schon aus diesem Grunde weiß ich, daß sie ein Fehler gewesen wäre. Es ist nicht meine Aufgabe, dem Reichsgericht das Leben angenehmer zu machen.
(Die Weltbühne, 10. Mai 1932)
Carl von Ossietzky musste am 10. Mai 1932 eine achtzehnmonatige Haft antreten, zu der ihn das Reichsgericht in Leipzig am 23. November 1931 wegen „Landesverrats und des Verrates militärischer Geheimnisse“ verurteilt hatte. Hintergrund war der Artikel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“ von Heinz Jäger, das ist der Flugzeugkonstrukteur Walter Kreiser, vom 12. März 1929, der die im Versailler Vertrag verbotene deutsche Luftrüstung aufdeckte. Ossietzky wurde zwar am 22. Dezember aufgrund der Weihnachtsamnestie entlassen, in der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. zum 28. Februar 1933 wieder verhaftet und durchlebte von nun an einen Leidensweg, der ihn durch mehrere Konzentrationslager führte. Auf internationalen Druck – am 23. November 1936 wurde Carl von Ossietzky der Friedensnobelpreis für 1935 zuerkannt – wurde er am 7. November 1936 schwerkrank entlassen. Carl von Ossietzky starb vor 75 Jahren an den Folgen seiner Haft am 4. Mai 1938 im Berliner Nordend-Krankenhaus.
Wir veröffentlichen einen redaktionell gekürzten Auszug aus dem 21seitigen Artikel, den Ossietzky vor seinem Haftantritt 1932 veröffentlicht hatte – er enthält sein journalistisches Credo, dem nachzufolgen wir uns bemühen.
Die Redaktion
Schlagwörter: Carl von Ossietzky, Militarismus, Reichsgericht, Weltbühne