von Fritz E. Gericke
Mit dem Beginn der Aufklärung hat der Mensch dem Menschen Gott genommen. Nicht ganz, denn selbst bekennende Atheisten, wie einst hohe sowjetische Führer, riefen hin und wider Gott an. Als ich mit einer westdeutschen Delegation Georgien bereiste, das damals noch Sowjetrepublik war, erklärte der uns begleitende hohe Funktionär in einem Augenblick, da uns die wunderbare Landschaft beinahe überwältigte: „Wenn es Gott gibt, dann hat er das Paradies hier bei uns erschaffen.“
Der Zweifel erfasst also nicht nur die Glaubenswilligen, sondern auch die Glaubensunwilligen. Vielleicht ist es wirklich so, wie immer wieder einmal gesagt wird, dass der Zweifel zum Glauben gehört, was ja nichts anderes bedeuten würde, als dass wer da glaubt, dass es einen Gott gibt, gleichzeitig daran zweifeln müsse, was anbetracht der furchtbaren Dinge, die in aller Welt passieren, nicht unberechtigt erscheint. Umgekehrt aber, und auch das entbehrt keineswegs der Logik, müssen dann demjenigen, der da glaubt, dass es keinen Gott gibt, Zweifel kommen, wenn er die erstaunlichen Entwicklungen von Pflanzen und Lebewesen aller Art betrachtet, wie sie aufeinander angewiesen und aufeinander ausgerichtet sind. Gerade hat man das „Gottesteilchen“ entdeckt, das Higgs, und schon wirft es neue Fragen auf. Es entsteht, wenn zwei klitzekleine Teilchen mit ungeheurer Wucht zusammenprallen. Aber wo kommen die denn her, die Kollisionspartner? Da wo sie zusammenprallen ist das Nichts. Was ist das Nichts, wenn sich darin zwei klitzekleine Teilchen begegnen und zusammenstoßen können? Wie viele solcher Teilchen waren da unterwegs und warum? Was trieb sie mit solcher Gewalt an, dass sie explodierten und dabei noch kleinere Teilchen freisetzten? Welche Kraft ist oder war es, die daraus Sternensysteme zusammen setzte und noch zusammensetzt? Da kann selbst ein überzeugter Atheist schon ins Grübeln kommen.
Für die Aufgeklärten und solche, die sich dafür halten, ist das Paradies, von dem mein kommunistischer Gastgeber sprach, längst als Illusion, Traum oder Märchen enttarnt. Wir fühlen uns erhaben über die Naivität islamistischer Märtyrer und deren Hoffnung auf das Paradies, wo zweiunddreißig Jungfrauen ihrer harren. Wir lächeln darüber. Zweiunddreißig Jungfrauen für die Ewigkeit? So wie ich die Kerle einschätze in ihrem Sturm und Drang, sind die Jungfrauen schon bald keine mehr. Und dann, gibt es dann Nachschub? Oder bleiben diese paradiesischen Jungfrauen auch dann noch Jungfrauen, wenn …? Das wäre doch auf die Dauer langweilig. Welcher echte Kerl, und Märtyrer sind doch echte Kerle, will schon tagaus tagein immer wieder eine Jungfrau? Wer will denn immer wieder von vorn anfangen? Das wäre doch auch so eine Art Sisyphusarbeit. Gerade hast du es geschafft, da geht das Ganze wieder von vorn los. Was wäre das denn für ein Paradies? Und die Jungfrauen von Achmed sehen für Ali sowieso viel besser aus. Wieso hat Ali die nicht bekommen, sondern ausgerechnet Achmed, den Ali ohnehin nicht sonderlich gemocht hat? Und schon geht der ganze Knatsch von vorne los. Ungebildete Dummköpfe sind das, aber sie sind dennoch in der Lage zu schießen, sich selbst und andere in Luft zu sprengen, Flugzeuge zu steuern und Atomwaffen herzustellen. Unsere Überheblichkeit ist mindestens genauso bedrohlich, wie diese zu allem fähigen Terroristen. Unsere Gesellschaft, wir alle, sind egozentriert und halten das für völlig normal, denn wir sind die Größten.
Wir im Abendland, hier in Europa, wir leben die Werte der jüdisch-christlichen Tradition. Wer daran glaubt, wird selig. Was leben wir denn? Wonach richten wir uns? Nach dem alttestamentarischen Auge um Auge und Zahn um Zahn oder nach der Bitte im Vater unser „Und vergibt uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“?
Ist es nicht vielmehr so, dass in unserer säkularisierten Gesellschaft die Vergebung von Schuld durch den Erlösertod des Gottessohnes ersetzt wird durch die Entschuldigung Schuldiger durch andere Schuldige. Anstelle der Bitte „… und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ heißt es heute eher: „Wenn Du aufhörst nach Leichen in meinem Keller zu suchen, grabe ich nicht länger in deinem Keller“, oder „finde Gründe für meine Sünden, die ich wider Dich oder die Deinen begangen habe, und ich werde Gründe für Dein Fehlverhalten finden, und schon sind wir beide frei von Sünden“. So als hätte das Tun nicht stattgefunden, so als seien wir damit in den unschuldigen status nascendi zurückgekehrt, als hätte unser Tun keine Folgen gehabt. Doch es hatte Folgen, und diese Folgen sind der Humus, auf dem neue Schuld gedeiht, für die dann wieder nach Entschuldigungen gesucht wird.
An die Stelle der Vergebung für begangenes Unrecht ist die Forderung nach Erklärungen getreten. Die Befreiung von Schuld ist zu einer Fleißarbeit des Verstandes geworden. An die Stelle der Reue, die allenfalls mit Tränen und der Miene eines Leichenbitters möglichst dramatisch vorgespielt wird, ist der Rückzug auf entlastende Fakten getreten, die oft genug wie Formeln ausgegeben werden können: „Er/sie hatte eine schwere Kindheit.“ Millionen anderer hatten ebenfalls eine schwere oder gar noch schwerere Kindheit, und sie wurden nicht auf diese Weise schuldig, wie der, für den/die dieser Fakt nun zu seiner/ihrer Entlastung angeführt wird.
Oder: „Zum Zeitpunkt der Tat, war der Täter betrunken.“ Wer hat ihn denn gezwungen, sich zu betrinken? „Er hatte gerade seinen Arbeitsplatz verloren.“ Millionen anderer haben ebenfalls ihren Arbeitsplatz verloren. Sie haben sich nicht betrunken, oder wenn doch, dann haben sie wenigstens ihren Nachbarn nicht erschlagen.
„Er hatte Anabolika genommen, und Anabolika machen aggressiv.“ Diese Reduzierung auf eine erklärbare Ursache ist eine Verlagerung auf etwas nicht Fassbares, etwas Schicksalhaftes, der Unausweichlichkeit griechischer Tragödien gleich. Die Reduzierung auf die angeblichen oder tatsächlichen Fakten wirkt wie ein Blitzableiter, geerdet in „die Anderen“, „die Gesellschaft“, „die Umstände“. Der Täter ist zwar nicht völlig frei von Schuld, doch als Täter ist er zugleich Opfer, und als Opfer verdient er Mitleid. Dann kann und darf ich ihn nicht verurteilen oder gar hassen, ja, dann muss ich sogar versuchen, ihn zu verstehen. Die Mühe des Vergebens bleibt mir damit erspart.
Es scheint, als würden beide davon profitieren, der Täter und sein Opfer. Doch das scheint nur so, denn mit diese Haltung spalte ich mein Ich. Mein archaisches Ich schreit nach Auge um Auge und Zahn um Zahn, es will dem Vergewaltiger Gewalt antun und den Mörder vernichten. Erst dann findet es Ruhe. Der Verstand aber sagt: Nein, du musst die Umstände bedenken, der Täter war ein getriebener seiner Emotionen, und wenn du nach Rache schreist, nach Vergeltung, dann handelst Du wie er. Mit welchem Recht könntest du ihn dann noch verurteilen? Und diejenigen, die seine guten und friedlichen Seiten kennengelernt haben und ihn dafür vielleicht sogar lieben, werden nicht ihn sondern dich verdammen oder ebenfalls nach Rache und Vergeltung gieren. Ein Teufelskreis.
Doch die Frage bleibt, wie kann ich jemandem vergeben, wenn der Täter nicht nur von anderen sondern vor allem von mir entschuldigt wird, das heißt, wenn ich ihm die Last der Schuld von den Schultern nehme, wenn ich ihn entlaste?
Was bleibt ist die Verzweiflung und das Leid der Opfer, die verstehen sollen, was sie nicht verstehen können. In ihnen wächst das Gefühl von Ohnmacht und mit diesem Gefühl oft auch der Hass. Wo alles erklärbar wird, gibt es eben nur die Erklärung, gesteuert von dem oft dieser Zumutung widerstrebendem Verstand. Eine Entschuldigung, die nach schwerem Ringen aus dem Herzen kommt, eine auch für das Opfer befreiende Vergebung von Schuld kann es so nicht geben.
Das Streben der verdienstvollen Aufklärung, alles und jedes erklären zu wollen, das oft genug zur Folge hatte zu glauben, alles verstehen zu können, hat den Menschen nicht nur Gott genommen, sondern auch einen Teil ihres Ichs, und dennoch ist und bleibt sie unentwegt bestrebt, Gutes zu bewirken.
Es ist ein unbestreitbares Verdienst der Aufklärung, dass wir keine Hexen mehr verbrennen. Sie hat dennoch nicht verhindert, dass Juden vergast wurden, nur weil sie Juden waren, und dass Sintis und Romas in Konzentrationslagern umgebracht wurden und in weiten Teilen Europas noch immer verachtet, diskriminiert und vertrieben werden, nur weil sie Sintis oder Roma sind. Sie hat nicht ausgereicht, Weiße daran zu hindern, Schwarze, und Schwarze daran zu hindern, Weißen zu erschlagen, nur weil sie weiß oder schwarz sind. Christen erschlagen Christen und Moslems, Moslems erschlagen Moslems und Christen. Demokraten verfolgen Kommunisten und Kommunisten verfolgen Demokraten. Der archaische Hass auf alles, was anders ist als wir, lauert weiterhin in uns.
Der Zwang, aufgeklärt zu sein, wurzelt in der gleichen Erde, wie der Zwang im so genannten Dritten Reich, sich zu den Nazis, in der ehemaligen DDR zum Sozialismus und in der Bundesrepublik zu der zum Kürzel FDGO verkommenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen.
Die Aufklärung, die uns von dem Zwang befreite, glauben zu müssen, wo Zweifel kaum noch zu unterdrücken ist, erhebt nun ihrerseits einen Absolutheitsanspruch. Sie unterdrückt nahezu verzweifelt alle Zweifel an der Möglichkeit, dass der Mensch jemals zur Allwissenheit gelangen könnte. Sie wird zu einer Art Ersatzreligion, und wie alle Religionen verlagert sie die Erfüllung menschlicher Wünsche, Träume und Sehnsüchte in die Zukunft.
Gleichzeit aber gehen die Realisten der Aufklärung daran, diese Hoffnungen ebenfalls in das Reich der Illusionen zu verbannen. Der Realist kennt keine heile Welt, weil die Welt nicht heile ist. Die heile Welt findet für ihn nur in Märchen, Filmen, Schlagern oder Romanen statt. Die sind Opium fürs Volk, das mit dem Hammer der Realität bekämpft wird.
In den Trümmern der Hoffnungen suchen die unverbesserlichen Träumer auch weiter nach der glücklichen Welt. Die Aufklärung aber duldet keine Fluchtwege. Sie enttarnt alle Illusionen. Sie setzt an die Stelle der Träume das Bewusstsein: Der Zauberer, der uns als Kinder noch in Erstaunen setzte, kann gar nicht zaubern, er trickst nur, wenn auch sehr geschickt. Wir bestaunen nicht mehr das Ergebnis der Zauberei, wir beklatschen allenfalls gnädig die Fingerfertigkeit des Akteurs. Macht uns dieses Wissen glücklicher?
Unsere kindliche Naivität von einst, unsere Unbefangenheit, wir dürfen sie als Erwachsene nicht mehr zeigen, ohne Gefahr zu laufen, uns der Lächerlichkeit preiszugeben. Naivität wird gleichgesetzt mit Dummheit. Wir aber sind aufgeklärt, wir sind nicht dumm, wir durchschauen alle Tricks, und wenn wir sie einmal nicht durchschauen, dann tun wir wenigstens so. Wir durchschauen die Tricks der Banken, der Pharma- und der Lebensmittelindustrie. Wir haben das alles immer schon gewusst, aber irgendetwas muss man ja schließlich essen, bei irgendeiner Bank muss man ja ein Konto haben, Kopfkissen und Sparstrumpf sind out, und wenn ich krank bin, brauche ich halt Medikamente, egal was sie kosten und ob sie wirken oder welche Risiken sie haben.
Mit glauben hat das nichts zu tun. Wir glauben nicht an Aspirin, das wäre ja auch lächerlich, wir nehmen es, weil es wirkt. Wir glauben an das Versprechen, nicht an das Mittel. Wenn Gott will, dass wir an ihn glauben, dann muss er sich endlich einen ordentlichen Promoter suchen, eine gute Werbeagentur, die uns sein Wirken auf Plakaten, in der Fernsehwerbung und auf Prospekten mit bunten Bildern unermüdlich, tagein tagaus vor Augen führt, dann glauben wir vielleicht eines lieben Tages auch wieder an Gott.
Doch bis dahin gilt: Wir sind aufgeklärt, wir können über Naivlinge nur hämisch grinsen und finden alle anderen, nur uns selbst nicht, zum Kotzen.
Fritz E. Gericke, Jahrgang ’28, Dresden, verweigerte den Gestellungsbefehl zur Waffen-SS und tauchte bis Kriegsende unter. 1945 zusammen mit Wolfgang Mischnick Eintritt in die Liberaldemokratische Partei in Dresden. Verhaftung; 1952-1954 politischer Häftling in Bautzen II. Nach Übersiedlung in die BRD Mitglied der FDP; zusammen mit Gerhart Baum engagiert für sozialliberalen Kurs und neue Ostpolitik sowie die im Grundgesetz verankerten Grund- und Menschenrechte.
Journalist, Drehbuchautor, Regisseur, Dokumentarfilmer und von 1976 bis 1993 auch Medienreferent in der Bundeszentrale für politische Bildung. Lebt in Köln.
Schlagwörter: Aufklärung, Fritz E. Gericke, Gott, Reue, Schuld, Sühne, Vergebung, Würde