von Ulrike Steglich
Telefonklingeln reißt mich aus dem halbkomatösen Grippe-Schlaf. Auf dem Display des Telefons: lauter Nullen. „Mrs. Steglich, do you speak English?“, erkundigt sich ein Mann am anderen Ende der Leitung. Verschlafen antworte ich mit ja, auch wenn ich in meinem derzeitigen Zustand wenig auf meine etwas eingerosteten Kenntnisse vertraue. Ich ahne ja nicht, was noch kommen wird.
Der Mann spricht perfekt englisch, mit asiatischem Akzent. Er erklärt mir, dass er Mitarbeiter einer Windows-Service-Firma ist und von meinem Laptop zahlreiche Fehlermeldungen erhalten hat.
Auch das noch. Erst vor ein paar Tagen habe nicht nur ich die Grippe bekommen, sondern auch mein Macbook. Im Gegensatz zu mir machte es aber gleich den kompletten Abgang. Deshalb musste ich auf ein altes Windows-Laptop ausweichen, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben. Und von dort aus gibt es offenbar Fehlermeldungen an Windows. Gleichzeitig hatte ich, um die alte Festplatte zu prüfen, einen Online-Check angemailt. Das könnte der Grund sein, warum der Mann jetzt anruft.
Der Mann spricht schnell, die Telefonverbindung ist schlecht, ich muss dreimal nachfragen, und es dauert eine ganze Weile, bis ich alles kapiert habe. Er warnt mich eindringlich, dass es da offenbar „very serious problems“ gebe, mein Rechner sei infiziert. Nun, sagt der Mann, wolle er die Festplatte prüfen, um die Fehler zu beheben. Er navigiert mich durchs Netz bis zu einem Programm, mit dem ich ihm Zugriffsrecht auf meinen Rechner erteilen soll.
Das dauert allerdings, weil zwischendurch sowohl die Telefonverbindung als auch der Rechner abstürzen. Außerdem ist der betagte Computer extrem langsam, wie ich meinem unbekannten Telefonpartner immer wieder mitteilen muss, dessen System wesentlich schneller arbeitet.
Die Wartezeiten überbrückt er, indem er höflichen Smalltalk mit mir macht: Wie es mir gehe? Ob ich eine „Grandma“ sei? (Meine Stimme klingt grippebedingt nach einem sehr tiefen und sehr rostigen Blecheimer.) Nein, sage ich, ich hab zwei Kinder. Oh – Tochter und Sohn? Nein, zwei Söhne.
Dann macht der Rechner wieder was, dann dauert es wieder.
Oh, was machen denn die Söhne, wie alt sind sie? Ich erzähle ihm. Der Mann hat Geduld ohne Ende mit mir und meinem lahmenden Rechner.
Aber Zugriffsrechte? Jetzt werde ich nervös. Ist der Mann ein Betrüger, der sich auf meine Festplatte einhacken will?
Ich teile ihm meine Bedenken mit, frage ihn, was er eigentlich vorhat, und werde immer hektischer. Außerdem bin ich genervt und gereizt, weil ich krank bin, Zeitdruck habe, mein Hauptrechner im Eimer ist und ich die Situation nicht durchschauen kann.
Geduldig erklärt mir der Mann nochmals die Lage und die Firma – er wolle nun die Fehler beheben. Ich erlaube den Zugang zu meinem Rechner, er legitimiert sich. Wo die Firma überhaupt sitzt, frage ich. Firmen-Hauptsitz ist zwar Großbritannien, aber der Service sitzt im indischen Mumbai. Ich telefoniere also seit inzwischen anderthalb Stunden mit einem mir unbekannten indischen Computerexperten auf Englisch.
Er typt mir (da er ja jetzt Zugang zu meinem Rechner hat), seinen Namen, die Identifikationsnummer sowie ein Angebot. Etwa 130 Euro für Fehlerbehebung, Sicherheits- und Servicepaket, etwa das Doppelte für alle Rechner samt Drucker und W-LAN in meinem Haushalt. Durchaus sinnvoll bei zwei Teenie-Söhnen, die gern mal sorglos allen möglichen Kram aus dem Netz laden. Ein fremder Cursor in Mumbai bewegt sich flink über meinen Bildschirm im grauen Berlin, gleichzeitig telefonieren wir immer noch. That’s Globalisierung, Baby.
Oh, sagt der Mann in Mumbai, ihr Rechner ist wirklich sehr langsam und sehr krank. Und erklärt mir mit großer Geduld die genauen Probleme und wie das passieren konnte, zeigt mir alle infizierten Daten. „Very, very serious and dangerous“, sagt er. Fragt mich höflich, aber auch freundlich-streng, warum ich denn nicht auf mehr Sicherheit geachtet hätte. Ich erkläre ihm krächzend, dass ich auf dem Rechner schon lange nicht mehr arbeite, dies nur eine Notnutzung ist und außerdem meine Söhne gern Spiele aus dem Netz laden. „Oh, I see“, sagt der Mann verständnisvoll und etwas belustigt.
Der Rechner rechnet wieder extrem langsam. Wieder smalltalk: Ob ich jemals in Indien war? Nein, aber es war immer mein Traum, erzähle ich ihm. „Oh, you should come and see Mumbai!“
Seit nun fast drei Stunden rede ich mit einem wildfremden Inder, der meinen Rechner reparieren möchte. Dann soll ich zunächst das Geld überweisen, online, ich werde wieder nervös und teile ihm meine Bedenken mit. Ich solle mir keine Sorgen machen, sagt der Mann, beim Überweisungsvorgang werde er sich ausloggen. „Sehen Sie?“ Er loggt sich aus.
Die Überweisung ist abgeschlossen, inzwischen sind auch die Söhne nach Hause gekommen und wundern sich, dass ihre Mutter ewig auf Englisch telefoniert (zwischendurch bricht die Verbindung immer mal wieder ab, aber dann kommt sofort ein Rückruf). Parallel kommunizieren wir per Chat auf meinem Bildschirm, damit mir der Experte sagen kann, was ich zu tun habe.
Alle Formalitäten sind abgeschlossen, dann kommt Technician Nr. 2 an die Strippe und sagt charmant wie entschlossen, sie würden nun alles beheben. „Bitte fassen sie Ihren Computer jetzt zwei Stunden lang nicht an – und Sie werden sehen, danach geht er wieder ab like a rocket“, wie eine Rakete.
Nun kann ich nichts mehr tun. Habe immer noch die Chatfenster der Technicians 1 und 2 auf dem Bildschirm (der eine kümmert sich um die infizierte Hardware, der andere um die verseuchte Software), doch sobald ich aufs Mousepad fasse, kommt der energische Hinweis: „Please don’t do anything!“
Wieselflink huscht der Cursor, von Mumbai aus gesteuert, über meinen Bildschirm, öffnet Ordner, Dateien und Programme, lädt, installiert oder löscht irgendwas. Ich lehne mich zurück und beobachte den Bildschirm, auf dem wie von Hexenhand immer neue Fenster geöffnet und wieder geschlossen werden, Sicherheitsprogramme neu installiert werden, während ich die Tastatur nicht berühre. Es ist ein eigenartiges Gefühl: Mein Rechner wird vom fernen Mumbai aus desinfiziert und ich kann dabei zusehen. Ich rufe meinen Sohn, wir glotzen beide fasziniert auf dieses Phänomen der Globalisierung. „Mumbai“ hielt mein Sohn anfangs für einen Witz. Ich erkläre ihm, dass die Mega-Metropole Mumbai seit der englischen Kolonisierung Bombay hieß, bis das unabhängige, aufstrebende Indien selbstbewusst zu den ursprünglichen Namen zurückkehrte. Mein Sohn, der 14-jährige Informatik-, Schach- und Mathe-Freak, weiß, dass Indien berühmt ist für seine exzellenten Informatiker und Computer-Experten.
Nach knapp zwei Stunden ist die Rundumerneuerung tatsächlich abgeschlossen. „You can use your computer now“, erscheint auf dem Display. Dann klingelt wieder das Telefon. Eine junge Inderin erkundigt sich zunächst, wie es mir geht. Ich krächze zurück, dass es mir gut geht. Oh, sagt sie mitfühlend, „You’ve got a heavy cold!“ Erzählt mir, dass ihre Mama und sie selbst neulich auch schwer erkältet waren. In rasend schnellem Englisch erklärt sie mir dann die installierten Sicherheitsprogramme, wie ich jeden Abend meine Daten sichern soll und wie ich den Service erreichen kann. Geduldig wiederholt sie, wenn ich etwas nicht verstanden habe oder meine Hustenanfälle in den Hörer röchele, bedankt sich immer mal wieder vielmals für „meine Geduld“ und lobt mich für meinen technischen Sachverstand sowie meine Sprachkenntnisse – sie selbst könne leider kein Deutsch.
MEINE Geduld? MEIN Sachverstand? Meine Sprachkenntnisse? Ich muss lachen. In knapp fünf Stunden haben drei indische Computerexperten meine Rechner- und Datenrettung bewerkstelligt. Mumbai rettet eine technisch eher unbegabte Berliner Journalistin. Ich bin sprachlos: Der olle Rechner geht tatsächlich wieder ab wie eine Rakete.
Zwei Dinge fallen mir ein: Erstens die Erinnerung, wie ich vor sechs Jahren drei Monate lang vergeblich versuchte, mit Hilfe der Telekom, von der ich damals das Notebook kaufte, eine installierte UMTS-Karte zu aktivieren – alle Mitarbeiter waren völlig ratlos. Zahllose Anrufe und Besuche brachten keine Lösung. Niemandem wäre eingefallen, mich anzurufen oder sich gar nach meinem Befinden zu erkundigen. Das wäre auch nicht nötig gewesen – wenn sie wenigstens von der Sache auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätten. Hatten sie aber nicht. Am Ende musste ich selbst basteln.
Und dann fällt mir Jürgen Rüttgers ein, jener CDU-Politiker und einstiger „Zukunftsminister“, der sich vor Jahren mit dem grotesken Wahlslogan „Kinder statt Inder“ peinlich machte. Damals ging es um die GreenCard für Fachleute, um den Fachkräftemangel in Deutschland zu lindern. Herr Rüttgers befand jedoch, Deutschland solle lieber die Gebärfreudigkeit der Frauen fördern, als ausländische Experten ins Land zu holen. Er führte sich auf, als würden Millionen hungernder Inder Deutschland belagern wollen.
Nichts lag ferner: Denn es gibt gar keinen vernünftigen Grund für indische Fachleute, aus der Boom-Nation in dieses kalte, schwerfällige Land zu kommen. Ihnen reichen einfach Telefon und Internet, ihre Kompetenz und Kommunikationskultur.
Fünf Stunden hatte ich das Vergnügen mit unglaublich freundlichen Experten in Mumbai: Ein Erlebnis der besonderen Art. Die wunderbare Seite der Globalisierung.
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