16. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2013

Horst Bieneks Erinnerungen an Workuta

von Kai Agthe

Die traumatische Erfahrung Workuta hat der Schriftsteller Horst Bienek viele Jahre mehr oder minder erfolgreich verdrängt. Es brauchte der wiederholten Aufforderung von Freunden und Kollegen sowie einer Diskussion im Anschluss an eine Lesung auf der Leipziger Buchmesse des Jahres 1990, damit er sich endlich aufraffen konnte, über seine Zeit in Stalins Straflager zu berichten: „Warum haben sie nicht über Workuta geschrieben?“, wurde er seinerzeit im Gohliser Schlösschen gefragt. Und Bienek: „Ich schwieg. Ich wusste nicht zu antworten.“
Der Versuch, Zeugnis über seine vier Jahre währende Qual auf dem „Archipel Gulag“ abzulegen, blieb höchst fragmentarisch. Im April 1990 begann Horst Bienek mit seinen Aufzeichnungen, im Dezember desselben Jahres starb er in seinem Haus in der Nähe von München an der Immunschwächekrankheit Aids, von der er wohl seit 1987 wusste.
Michael Krüger, Bieneks Verleger und demnächst in den Ruhestand wechselnder Leiter des Münchner Carl-Hanser-Verlags, sichtete den Nachlass – der heute in der Leibniz-Bibliothek in Hannover verwahrt wird – seines Autors nach dessen Tod. Das überschaubare Konvolut mit den Workuta-Aufzeichnungen hat Krüger nun mit einem Nachwort versehen und im Göttinger Wallstein-Verlag herausgegeben. (Dort erschien im Vorjahr auch ein Aufsatzband zu Leben und Werk Bieneks – siehe Das Blättchen 22/2012) Es ist ein schmaler Band, der aber seine Wirkung beim Leser nicht verfehlt. Bienek beschreibt in kurzen Kapiteln die Verhaftung, das Verhör und die Verurteilung 1951 durch den russischen Geheimdienst NKWD, die Deportation in ein Durchgangsgefängnis (Butyrka) nach Moskau und den Weitertransport an den Polarkreis.
Wegen angeblicher Agententätigkeit für die USA und antisowjetischer Hetze ist der damals 21-Jährige verurteilt worden. Die Anschuldigungen waren so hanebüchen wie der ihnen folgende Prozess. Der dauerte, so Bienek, gefühlte 15 Minuten, war also ebenso eine Farce wie das Urteil an seinem Ende, das schon vor Eröffnung der Gerichtsverhandlung feststand. Es lautete: 20 Jahre Gefängnis. Seine durchweg zu 25 Jahren verurteilten Leidensgenossen kommentierten das Urteil unisono mit dem Hinweis, dass zu 20 Jahren verurteilt zu sein fast so viel wie unschuldig bedeute. Ein geringer Trost für den jungen Menschen, für den eine Welt zusammenbrach: „Ich versuchte mir eine Schuld einzureden.“ Und: „Meine Seele war wie aus Blei.“ Die letzte Hoffnung auf ein baldiges Ende des Albtraums zerstob, als er merkte, dass die Reise nicht nach Bautzen oder Waldheim, sondern in die Sowjetunion ging. Vier Jahre verbrachte Bienek als Arbeitssklave im Kohleabbau unter Tage in Workuta. Das sind genau vier Jahre zu viel gewesen. 1955 wurde er in die Bundesrepublik entlassen. Die Rehabilitation durch die russischen Behörden erfolgte 1994, vier Jahre nach Bieneks Tod.
Nachdenklich stimmt, dass nach Bieneks Verhaftung und dem folgenden Schauprozess Bertolt Brecht – dessen Schüler er am Berliner Ensemble zu dem Zeitpunkt war – nicht die Courage hatte, seine Stimme, die etwas galt in der frühen DDR, für Bienek zu erheben. Am Ende der Workuta-Erinnerungen wird, wenn schon nicht Brecht, so doch dessen Ehefrau Helene Weigel zitiert, die gesagt haben soll: „Vielleicht war Bienek doch ein amerikanischer Spion. Man verhaftet doch bei uns nicht so einfach unschuldige Leute.“ Diese Aussage in ihrer Mischung aus (vermutlich nur gespielter) Weltfremdheit und Naivität erschüttert.
Der junge Bienek freilich rebellierte 1951 viel subtiler gegen den diktatorischen Ulbricht-Staat stalinistischer Machart als sich der NKWD und die Stasi je hätten träumen lassen: „In Ahrenshoop“, so ist zu lesen, „wohin ich im Sommer in Urlaub gefahren bin, hatte ich selbstbemalte Transparente am Strand aufgehängt, zusammen mit Annemarie Dellin. […] Darauf stand: Es lebe der Surrealismus. Die meisten Leute verstanden das nicht.“ Wie auch – in einem Land, in dem „Sozialismus“ jedes zweite Wort war, der französische Surrealismus aber ebenso als formalistisch verschrien und verboten war wie die Dichtung eines Franz Kafka.
Horst Bienek erzählt in einfachen und klaren Sätzen, die durch ihre Struktur deutlich machen, dass er sich dem Thema erst langsam nähern muss. Seine Workuta-Erinnerungen sind ein kleines, großes Buch, dem man – obwohl es im Stadium der ersten Konzeption zurückblieb – nichts mehr wünschen möchte als ähnlich viele Leser wie sie etwa „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn und die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow fanden.

Horst Bienek: Workuta. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger. Wallstein-Verlag, Göttingen 2013, 77 S., 14,90 Euro