von Günter Hayn
Sigmar Gabriel (SPD) verkündete am 25. März im Berliner Tagesspiegel, dass er die sozial-liberale Koalition Willy Brandts aus den 70er Jahren wiederholen wolle. Natürlich nicht mit der FDP, sondern mit den Grünen, den „Liberalen des 21. Jahrhunderts“. Das ist weder neu noch besonders bemerkenswert. Nur ist der soziale Hintergrund der Bündnisgrünen ein gänzlich anderer als der der Rösler-Brüderle-Truppe. Gabriel und seine Berater – genauer: Wahlkampfchefin Andrea Nahles – wissen das auch. Sie wissen auch, dass sie den Grünen mit solcher Zuweisung ein Stigma verpassen, das die so schnell nicht wieder loswerden. Das könnte man als Wahlkampfgetöse in den Skat drücken, wenn denn da nicht neuerdings ein so gänzlich anderer Ton angeschlagen werden würde: Nämlich die Chuzpe, mit der der Chef einer zwischen allen Klippen der politischen See lavierenden SPD seinen potenziellen Partnern ihren Platz am (visionären) Katzentisch und ganz locker nebenher mit ziemlicher Überheblichkeit den im Parteienspektrum als Mehrheitsbeschafferverein zuweist. Eine Neuauflage der Brandtschen Koalition – allein mit solch Gedankenspiel offenbart der derzeitige SPD-Vorsitzende eine erschreckende Unkenntnis der eigenen Parteiengeschichte; Egon Bahr möge ihm doch ein Widmungsexemplar seiner Erinnerungen an Willy Brandt schenken! – hieße, dass den Grünen nur die Rolle des Juniorpartners zukäme. Gabriel begründet dies damit, dass die SPD „die Partei der fleißigen Leute“ sei und „für deren Anspruch auf Teilhabe am Haben und Sagen in unserer Gesellschaft“ kämpfe. Der „Rest“ des Spektrums, also CDU/CSU, FDP, Linke, Piraten und mithin auch Bündnis 90/Die Grünen wären demnach mehr oder weniger die Advokaten der faulen Leute? Sigmar Gabriel greift da nur eine Biertisch-Phrase seines Vorgängers Gerhard Schröder wieder auf. Der zielte seinerzeit auf Stammpublikum der Grünen…
Lassen wir einmal, was schwer fällt, den gegenwärtig aus allen Rohren auf das fast schon bedauernswerte SPD-Schiff abgefeuerten Hartz-IV-Vorwurf beiseite: Der SPD-Chef geht mit Nonchalance darüber hinweg, dass gerade während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) in den Jahren 2002 bis 2005 die Zuwachsrate der Reallöhne gegenüber dem Vorjahr in Deutschland von 2,0 Prozent auf minus 0,3 Prozent „stieg“, während sich andererseits die Anstiegsrate des Preisindexes von 1,0 auf 2,0 Prozent verdoppelte. Das ging zulasten der Arbeitnehmer, als deren einzige Interessenvertretung sich die SPD geriert. Diese Schere kennzeichnete auch die Amtszeit des seinerzeitigen Finanzministers Peer Steinbrück 2005 bis 2009. Krisenbedingt fielen beide Werte allerdings 2008/2009 in den Keller, wobei der Preisindex immer noch – wenn auch nur um knappe 0,5 Prozent anstieg, die Reallöhne jedoch um 0,5 Prozent zurückgingen. Kurz gesagt: Unter SPD-Führung mussten die deutschen Arbeitnehmer, also die, die nicht auf die Straße flogen, einen sehr realen und politisch gesteuerten Einkommensverlust hinnehmen. Sigmar Gabriel und die Wahlkampfstrategen um Peer Steinbrück spekulieren offenbar auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler.
Aber das scheint nicht aufzugehen: Auch wenn Angela Merkels gegenwärtiges Krisenmanagement zunehmend auf Kritik stößt, bei einer Direktwahl des Kanzlers bekäme Steinbrück 19 Prozent, das ist miserabler als das am vergangenen Wochenende von Forsa prognostizierte SPD-Ergebnis von 24 Prozent. Auch wenn diese Werte scheinbar stabil scheinen: Zu den Bundestagswahlen vom 27. September 2009 betrug der Stimmenabstand zwischen CDU und SPD zirka zehn Prozent, in den aktuellen Umfragen hat er sich auf 17 Prozent vergrößert. Die CDU liegt derzeit bei 41 Prozent. Da ist nix mit Kanzlerinnendämmerung! Selbst ein zurzeit sehr unwahrscheinliches rot-rot-grünes Bündnis würde gegenüber der wieder denkbaren schwarz-gelben Option allenfalls ein müdes Patt erzielen. Nach der zulasten der CDU gehenden Leihstimmenkampagne der Kanzlerinnenpartei zugunsten der FDP bei der jüngsten Niedersachsenwahl, die von allen abgeschriebene FDP erreichte 9,9 Prozent der Zweitstimmen, wurde zwar aus Unionskreisen unisono der Choral „Nie wieder!“ skandiert. Dennoch sieht es momentan so aus, als könnte die FDP die Fünfprozenthürde wieder einmal überspringen, das bisherige Regierungsbündnis also weiterwursteln. Mit seinen jüngsten, die Grünen und ihre Anhängerschaft (die SPD als Partei der „Fleißigen“) abqualifizierenden Äußerungen hat Sigmar Gabriel das Steuer des Großtankers SPD, „Tanker im Nebel“ übertitelte der Sozialdemokrat Malte Ristau 1992 eine Schrift über den Kurs der Partei, in Richtung Riffe festgezurrt. Ristau arbeitet inzwischen im Ministerium von Ursula von der Leyen (CDU). Die rabiate Verweigerung gegenüber der Linkspartei könnte, wenn sie es denn endlich begreifen würde, nur dieser selbst zugute kommen. Die Grünen treiben Gabriel und Steinbrück selbst in die Arme der CDU.
Für die SPD verheerender wirkt sich allerdings ein Denken aus, das sorgsam zwischen den Ebenen des föderalen Systems unterscheidet: Was interessiert denn „den Bund“, was „die Länder“ treiben – und umgekehrt? Die Wähler merken sich das aber inzwischen. Und sie ziehen ihre Schlüsse aus tatsächlichen oder vermeintlichen Zusammenhängen zum Beispiel zwischen ihrer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Situation und „der Politik“. Bei den Strompreisen etwa. Peter Altmaier (CDU und Bundesumweltminister) hatte das erkannt und preschte nach der Verkündung des aktuell bevorstehenden Raubzuges der Energiekonzerne 2013 mit seiner „Strompreisbremsen“-Idee offenbar im Kabinett unabgesprochen vor. Das Schicksal dieser Idee ist von überwältigender Bildhaftigkeit für die Belastbarkeit der politischen Aussagen der Gabrielschen SPD. Am 21. März lud Angela Merkel zum „Energiegipfel“ in das Kanzleramt, um über die Altmaiersche Idee zu verhandeln. Hannelore Kraft (SPD) an die Adresse des Bundesumweltministers: „Sie haben doch die Industrie und die Ökostrom-Produzenten gleichermaßen verunsichert.“ Frau Kraft regiert Nordrhein-Westfalen und da geht nichts gegen die Energiekonzerne. Der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Olaf Scholz (SPD), sekundierte mit dem Vorschlag, dass das Kanzleramt doch künftig selbst die Verhandlungen zur Strompreisbremse führen müsse. So kam es denn auch. Die Kanzlerin musste den eigenen Umweltminister somit nicht selbst in die Ecke stellen. Das geschah auf Vorschlag der SPD. Sicherlich stand bei der ein gewisses Kalkül in Hinblick auf den Herbst 2013 im Hintergrund. Massakriert wurde aber eine Idee, die dadurch auch bei einem nicht mehr wahrscheinlichen Regierungswechsel kaum noch reanimierbar wäre. Begriffen haben es die Grünen. Deren schleswig-holsteinischer Umweltminister Rolf Habeck stellte fest, dass einige SPD-Landesregierungen „überaus heftig für die Einzelinteressen der Industrie gekämpft“ hätten, und die Genossen weiter von den Grünen entfernt seien als die CDU. So zitierte Habeck bislang undementiert der Spiegel.
Angesichts einer Partei, die inzwischen relativ undogmatisch eher an Macht- denn an Ideologiefragen interessiert ist wie die Grünen, müssten im Willy-Brandt-Haus bei solchen Äußerungen alle Alarmglocken läuten. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Man hat sich offenbar auf einen Kurs festgelegt. Die Wirklichkeitsverweigerung feiert in der Berlin-Kreuzberger Parteizentrale fröhliche Urständ.
Sigmar Gabriel kreiert die soziale Frage im bereits zitierten Tagesspiegel-Interview „neu“: „Wie verteilen wir die Lasten für das Gemeinwohl … fair und gerecht?“ Das klingt „links“, beinhaltet aber den völligen Verzicht auf jeglichen, schamvoll mit „Verteilungsgerechtigkeit“ umschriebenen Eingriff in die sozialen Strukturen dieses Landes. Wie das zu verstehen ist, erklärte Steinbrück am 26. März Zeit-online: „Mir geht es um die Ökonomie der Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist eine Bedingung für wirtschaftliche Leistungskraft und umgekehrt. Was sozial gerecht ist, ist auch ökonomisch sinnvoll.“ – Und umgekehrt! Was ökonomisch sinnvoll ist, ist also auch sozial gerecht. Das ist 1:1 die Argumentation der Unternehmerverbände. Das deckt sich mit den wirtschaftspolitischen Positionen Philipp Röslers und Rainer Brüderles. Die Frage nach der „FDP des 21. Jahrhunderts“ zeigt sich so in einem völlig anderen Licht.
Offen ist nur, wann die Wählerinnen und Wähler das bemerken. Die von Sigmar Gabriel im Tagesspiegel mit Blick auf die CDU abgegebene Prognose, dass alle Wahlversprechen ein Verfallsdatum hätten – „den Tag der Bundestagswahl um 18.01 Uhr“ – könnte in vollem Umfange auf seine eigenen Äußerungen zutreffen. Trotz der spätestens zur öffentlich-rechtlichen „Elefantenrunde“ am selben Abend einsetzen werdenden Wählerschelte würde dies von einem politisch mündigen Wahlvolk künden. Das folgte dann einer alten Aufforderung Gregor Gysis: Wählt das Original und nicht die Kopie!
Schlagwörter: Bündnis 90/ Die Grünen, Günter Hayn, Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel, SPD