16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Der Staat im Park: Was Ueno verspricht

von Sem Pflaumenfeld

Eine jede Stadt braucht ihre Lungen. Tokyo ist da nicht anders. Die Megalopolis aus Licht und Lärm besitzt mehrere von ihnen; nicht wenige liegen dabei um einen heiligen Bezirk. Für Ruhe und Gelassenheit bieten sich Schreine und Tempel zwar geradezu an, jedoch sind die Parks in der japanischen Hauptstadt selten wirkliche Orte des Müßiggangs.
Das Konzept von öffentlich zugänglichen Parks kam als Idee wie vieles andere Mitte des 19. Jahrhunderts nach Japan. Einer der größten und der wohl beliebteste mit jährlich zehn Millionen Besuchern ist der Ueno-Park im Bezirk Taitô. Bequem an mehreren Linien und im Nordosten der Ringbahn gelegen, ist dieser leicht zugänglich. Ueno („oberes Feld“) liegt in Shitamachi, der Stadt unterhalb des Shogunsitzes, in dem das Proto-Proletariat bis zur Verlegung der Hauptstadt 1867 lebte und arbeitete. Zwischen dem Park und dem Friedhof Yanaka im Norden liegen noch die alten Straßen, die Feuer, Erdbeben und Krieg überlebt haben. Und in dieser Gegend wollte sich ein modernes Japan im Wettlauf mit dem imperialen „Westen“ im 19. Jahrhundert neu schmücken.
Die Gegend war bereits in der Edo-Zeit (1603-1867) ein beliebtes Ziel für Menschen aus den Palästen und aus den Hütten gewesen: der Tôshô-Schrein ist die letzte Begräbnisstätte des ersten Shoguns, Tokugawa Ieyasu (1543-1616), der das kleine Fischerdorf zum Sitz seiner Administration erkoren hatte. Es war nur passend, dass sich hier 250 Jahre später die Truppen des Kaisers und des letzten Shoguns, Tokugawa Yoshinobu (1837-1913), im Boshin-Krieg (1867-69) treffen sollten. Die Tempelanlagen, die die für das Schicksal ungünstig angesehene Nordostseite des Schlosses beschützen sollten, wurden dabei abgebrannt. Yoshinobu übergab 1867 die Macht an den Kaiser zurück und verbarg sich bis zu seinem Tod vor den Augen der Öffentlichkeit. Seine stattliche Grabanlage befindet sich inmitten von Yanaka.
Doch das war erst der Anfang des Kampfes um Ueno, der sich als Austragungsort für die Selbstdarstellung einer sich modernisierenden Nation erweisen sollte. Die Größe und die Geschichte des Areals ließen einen Park von nationaler Bedeutung wahrscheinlich werden. Bereits fünf Jahre nach der Installierung der Regierung Meiji wurde er 1873 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein Jahr zuvor war hier das Museum des Erziehungsministeriums eröffnet worden. In Anlehnung an Industrieausstellungen, die die ersten japanischen Reisenden in Paris und Wien gesehen hatten, wollte Japan ebenso die eigene Entwicklung von Industrie und Kultur vorstellen. Dies war eine der ersten Gelegenheiten, zu der das Volk seinen Kaiser leibhaftig zu Gesicht bekam, als er die Eröffnungsrede hielt. Bilder zeigen ihn in einer extra für ihn angefertigten Uniform und die Kaiserin in einer Hofrobe, die über Jahrhunderte für adlige Frauen schicklich war. Das Land bekam einen Herrscher und mit dem Ueno-Park einen Ort zur Selbstdarstellung. Das Museum wechselte einige Male das Ministerium. 1875 wurde es vom Innenministerium, 1889 vom kaiserlichen Hofamt verwaltet. Bis 1947 unter der erneuten Ägide des Bildungsministeriums hieß es dann Kaiserliches Museum. Heute ist das Tokyo Nationalmuseum das zentrale Museumsgebäude am nördlichen Ende des Parks. Bis 1948 befand sich hier auch die Kaiserliche Bibliothek, bevor sie auf das Gelände der ehemaligen deutschen Botschaft gegenüber vom Parlament zog. Heute ist die Bibliothek in Ueno die Internationale Bibliothek für Kinderliteratur. Von dem gesamten Komplex, das auch das Nationalmuseum für Westliche Kunst (1959) in einem Bau von Le Corbusier, das Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft sowie das Städtische Kunstmuseum Tokyo umfasst, lässt es sich wunderbar hinein in den Park flanieren.
Bereits in den wilden 20er Jahren nutzte der moderne Städter in der Gestalt des Schriftstellers Nagai Kafû (1879-1959) den Park und seinen Shinobazu-Teich, um sich der Vergänglichkeit in der Metropole hinzugeben. In seinen Erzählungen lässt er Figuren das Verschwinden der alten Unterstadt (Shitamachi) und damit der letzten Spuren von Edo betrauern. Nagai hatte 1907 in Paris das Flanieren während der Lektüre von Proust und Baudelair vervollkommnet. Am Ende des Teiches befindet sich heute das Museum dieses Viertels, das eigentlich mehr in der Imagination als auf den Straßen existiert.
Während sich hinter den Museen einer der ersten Zoologischen Gärten Japans befindet, steht am anderen Ende die Figur von Saigô Takamori (1828-1877), der im Boshin-Krieg über die Truppen des Shogunats siegreich hervorgegangen war. Doch seine ablehnende Haltung gegenüber einer Hinwendung zum Westen und der Unterzeichnung der Ungleichen Verträge machte ihn zum Gegner seiner vormaligen Weggefährten. Wie er in der Satsuma-Rebellion 1877 gegen die Meiji-Regierung genau umkam, ist ungeklärt, weswegen er als Held groß über den Treppen von der Ueno-Station am Eingang zum Park steht. Er ist ein Symbol für einen Traum geworden, der sich für ihn nicht erfüllte und der doch Japan in eine imperiale, kriegerische Moderne führen sollte.
Die Bäume in Ueno werfen jedoch auch andere Schatten. Als Zugang zur Unterstadt traf sich hier, was die Stadt gern verstecken wollte. Bereits in der Edo-Zeit gab es in der unmittelbaren Umgebung der Tempelanlagen Teehäuser für ein heimliches Stelldichein, die vormodernen Vorläufer der heutigen Lovehotels. Unter Blüten von Pflaumen und Kirschen kauften Freier „den Frühling [=Jugend]“ von Männern und Frauen. Unter den Augen des Shogunats arbeiteten Menschen außerhalb der Viertel der lizenzierten Prostitution. Nach 1945 während der Besatzungszeit wussten die amerikanischen Soldaten nicht, was sich unter den Kimonos versteckte. Junge Männer, die entweder real oder zum Schein in Teehäusern als Schauspieler in Ausbildung angestellt waren, gingen hier ihren Geschäften nach. Der Kagema als Darsteller von Frauen- oder Jungenrollen mit dem Haupteinkommen in der Prostitution war ein beliebtes Thema der Erzählungen der Halbwelt der Zwischenkriegsjahre. Nach der Kapitualtion genossen die GIs die Freiheit, im Schatten der Kirsch- und Gingkobäume eine „Japanerin“ im Arm zu halten. Die Militäradministration versuchte zwar, offiziell wegen der Ausbreitung von sexuell übertragbaren Infektionen, der Lage Herr zu werden, doch das Verbot von Prostitution 1958 verlegte diese nur weiter in die Tiefen das Parks hinein.
Doch um die Jahrtausendwende hat Ueno noch für etwas anderes eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt: die Größe des Parks ermöglicht es vielen Wohnungslosen, dort zu wohnen. An sich ist das Aufstellen der Pappen und der blauen Plastiksäcke nicht erlaubt, und doch kampieren Männer dauerhaft in solchen Zelten. An sonnigen Tagen sitzen sie vor ihrem temporären Unterschlupf, spielen Schach und lesen. Die Bänke vor dem Teich sind sogar teilweise abgesperrt, und auf diesen sitzen obdachlose Männer und beobachten die Besucher des Parks. Einige von ihnen warten auf die Mittagsausteilung der Heilsarmee, die die Männer in Reihen antreten und vor dem Essen beten lässt. Die Händchen haltenden Pärchen, Familien und auch die gelegentlich hier paramilitärisch übende Feuerwehr der Stadt Tokyo ignorieren die Massen von Obdachlosen.
Am Ende des Parks findet sich ein kleines Polizeihäuschen, dessen Besatzung den modernen Flanierenden und den hilflosen Reisenden gern mit Rat und Tat zur Seite steht. Auch sie sieht über die Menschen im Schatten hinweg. Und gegenüber auf der anderen Straßenseite auf dem Weg zum Teich zurück steht ein Kino. In dessen Dunkelheit sehen Männer nackten Frauen beim Sex zu und träumen von den alten Zeiten, als sie sich im Park „den Frühling kaufen“ konnten.