von Erik Baron
Faszination des Bergbaus: Eindringen in unbekanntes Terrain. Vorstoßen auf den Grund. Den Grund unseres Daseins. Franz Fühmann zog es hinab in den Berg, Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ war wie zuvor Konrad Wolfs Film „Sonnensucher“ in der Wismut angesiedelt, und Volker Braun begab sich zuletzt rückblickend nach Bischofferode und Mansfeld. Und immer, wenn es auf den Grund ging, gab es Schwierigkeiten mit der Wahrheit, wurden Kunstwerke wieder versenkt – hinab in die Archive, Schicht um Schicht. Die Archive als moderne Form der Bergwerke. In ihnen lagern ungeahnte Schätze, die mühselig ans Tageslicht befördert werden wollen. Einer dieser Schätze wurde dank der unermüdlichen Förderarbeit durch das Deutsche Rundfunkarchiv jüngst in der Akademie der Künste präsentiert: „Columbus 64“ – ein vierteiliger Fernsehfilm aus den Jahren 1965/66 in der Regie von Ulrich Thein. Die Hauptrolle spielte Armin Müller-Stahl, der als Urgestein der Filmgeschichte fast 50 Jahre später höchstpersönlich als Gast der Akademie bei der Filmpräsentation anwesend war.
Nach Konrad Wolfs Film und Werner Bräunigs Roman ist „Columbus 64“ die dritte große Arbeit über den Uranbergbau in der Wismut. So nimmt es kein Wunder, daß auch dieser Film in die Fänge der Zensur geriet. Und dennoch ist die Geschichte jedes dieser Kunstwerke so unterschiedlich wie die durch den Bergbau zu Tage geförderten Erzbrocken. „Sonnensucher“ wurde 1959 durch sowjetische Intervention verboten, ohne je das öffentliche Licht der Leinwand zu erblicken. Seine Uraufführung erlebte er 1972. Bräunigs Roman „Rummelplatz“ fiel dem inquisitorischen Dezember-Plenum des ZK im Jahr 1965 zum Opfer, nachdem zuvor ein Kapitel in der Zeitschrift „neue deutsche literatur“ veröffentlicht worden war. Erst 2007 erblickte der Roman das Licht der (Nach)Welt. Parallel zu Bräunigs Roman entstand auch Theins Vierteiler – und geriet fast zwangsläufig in die Querelen des 65er ZK-Plenums. Doch während in der Folge dieses Plenums fast die gesamte DEFA-Produktion des Jahres 1965 aus dem Verkehr gezogen wurde (unter anderem „Spur der Steine“), lief Theins „Columbus 64“ Anfang Oktober 1966Ä unmittelbar vor dem 17. Jahrestag der DDR – an vier Abenden zu bester Sendezeit über die Bildschirme. Zuvor mußte Thein allerdings Kompromisse eingehen, denn erst nach radikalen (Ein)Schnitten wurde „Columbus 64“ für sendenswert gehalten – allerdings nur ein einziges Mal. Danach verschwand auch er im Archiv. Nunmehr gelangte der Film – um seine zensierten Stellen ergänzt – erstmals vollständig zur Aufführung.
„Columbus 64“ ist die Geschichte des Journalisten Georg Brecher (Armin Mueller-Stahl), der schriftstellerische Ambitionen hegt, seine fertiggestellte Erzählung vom Lektor jedoch um die Ohren gehauen bekommt. Es fehle an Haltung, Brechers Haltung. Und in der Tat plagen Brecher Zweifel, Selbstzweifel: Ich als Ich existiere noch gar nicht, heißt es zu Beginn aus seinem Munde. Also macht sich Brecher auf, sein Ich zu finden. Und wo findet man sein Ich besser als im Wir! Im Wir der Arbeit! Brecher verschlägt es in die Wismut, heuert dort als Kipperfahrer an. Er lernt die rauhe Welt des Bergbaus und die ungeschminkte Wirklichkeit der Arbeitswelt kennen. Und ihm begegnen Menschen, hinter deren harter Schale jene Freundlichkeit der Welt ruht, von der Brecht sprach. Hier scheint er tatsächlich zu entstehen, der neue Mensch, geformt durch Arbeit, durch Verantwortung fürs Ganze – jenseits der propagierten Phrasen vom neuen Menschen. Hier wird Arbeit nicht heroisiert, hier wird im Akkord rangeklotzt – bis die Prämie paßt. Hier treten all die Widersprüche zu Tage, die es offiziell gar nicht gibt. Hier wird gesoffen, hier wird gestritten, zur Not auch mit den Fäusten. So verwundert es nicht, daß auch Brecher in diesen Bann gezogen wird und schlußendlich eine Erzählung namens „Columbus 64“, seine eigene Geschichte, schreiben wird.
Thein findet, auch dank seines Kameramanns Hartwig Strobel, eine Filmsprache, die diese Arbeitswelt ungeschminkt vermittelt. Die Wismut ist glänzend fotografiert: Wenn die Kipper, beladen mit Abraum, wie aufgefädelt durch den Tagebau fahren, Tag und Nacht, erinnern diese Bilder an einen riesigen Ameisenhaufen. Es gibt kein Ausscheren. Ein einziger Organismus, der von der Aktivität der einzelnen Ameise lebt. Besser läßt sich die Dialektik von Individuum und Gesellschaft kaum abbilden wie in jenen Großaufnahmen von Hartwig Strobel. Doch fährt die Kamera näher heran, verwandeln sich die Ameisen in Menschen, in widersprüchliche Individuen, dargestellt durch die erste Garde von DDR-Schauspielern – neben Armin Mueller-Stahl Günter Grabbert, Lissy Tempelhof, Peter Dommisch, Erik S. Klein und Reimer J. Baur. Aber Thein arbeitete auch mit einer Reihe von Laiendarstellern – bis hin zu Erik Neutsch, der Erik Neutsch spielte, und Wolf Biermann, der Wolf Biermann spielte (die Biermann-Szenen mußten als erste gestrichen werden). Bis hin auch zu jenem legendären Sepp Wenig, Obersteiger, Aktivist und ZK-Mitglied, der Sepp Wenig spielte (allerdings von Hans Hardt-Hardtloff synchronisiert): Ein Kommunist alter Schule, der sich nicht zu schade war, sich mit den Kumpeln gemeinsam im Waschraum zu waschen und ihnen ein Ohr zu schenken. Ein durchaus widersprüchlicher Sympathieträger. Mit dieser Besetzung landete Ulrich Thein einen wahren Coup! Sepp Wenig, mit Thein befreundet, war die Rückversicherung der Zensur gegenüber. Bereits Konrad Wolf hatte ja in „Sonnensucher“ mit der Figur des Jupp Müller, gespielt von Erwin Geschonneck, Züge von Sepp Wenig nachgezeichnet. Aber Wenig war es dann auch, der maßgeblich am Verbot dieses Filmes mitwirkte. So besetzte Thein kurzerhand Wenig mit sich selbst und hielt ihn dennoch an der Regie-Leine.
Bei der Aufführung in der Akademie der Künste erzählte Armin Müller-Stahl in der anschließenden Diskussion von den Dreharbeiten mit Sepp Wenig. Parallel zu den Dreharbeiten zu „Columbus 64“ (immerhin über 200 Drehtage!) lief seinerzeit im Fernsehen die Verfilmung von „Wolf unter Wölfen“ mit Mueller-Stahl in der Hauptrolle. Wenig war begeistert von dieser Verfilmung und sagte zu Müller-Stahl, „Columbus 64“ solle so sein wie „Wolf unter Wölfen“. Auf die Erwiderung von Müller-Stahl, dass dies doch ein ganz anderes Thema sei, meinte Wenig nur: „Trotzdem!“ Mit diesem „Trotzdem!“ sollte er im weitesten Sinne durchaus Recht behalten: „Columbus 64“ wurde, wie so viele Filme aus jener Zeit, keine Bauchnabelgeschichte der Wismut, sondern entwickelte einen Panorama-Blick auf die Gesellschaft, in ihrer Utopie, in ihren Versäumnissen, in ihrer ungeschminkten Wahrheit, wie der Filmpublizist Ralf Schenk als Moderator der Diskussionsrunde mit Mueller-Stahl, Kameramann Strobel und Akademiepräsident Klaus Steack anmerkte.
Sieht man sich heute die zensierten Stellen von „Columbus 64“ an, kommt man um das obligatorische Kopfschütteln nicht herum. Nein, wie so viele zensierte Filme aus jenen Jahren, ist auch „Columbus 64“ keineswegs DDR-feindlich, im Gegenteil: Der Film trat problembewusst und kritisch für eine bessere DDR ein! Was wäre aus der DDR geworden, so fragt Klaus Steack polemisch in die Runde, wenn die Narren der Zensur diesen Film und andere nicht verboten hätten?!
Dem Deutschen Rundfunkarchiv sei Dank, liegt „Columbus 64“ nunmehr auch als DVD-Box mit 20-seitigem Booklet vor.
Schlagwörter: columbus 64, Erik Baron, Ulrich Thein, Zensur