16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Schwedenbomben

von Wolfgang Brauer

Heuer konnte man gegen Ende des Jänners im ansonsten glücklichen Austria beinahe eine revolutionäre Situation erleben: Das Volk wollte nicht mehr, die Herrschenden konnten nicht mehr, und auch die westliche Führungsmacht schaltete sich ein. Der Grund? Ein für die Alpenrepublik quasi identitätsstiftendes Produkt – behauptet jedenfalls der Hersteller: „In Österreich gehören SCHWEDENBOMBEN zum täglichen Leben, so wie Cola und Hamburger in Amerika“, beides ist natürlich klebriger Quatsch – sollte im Nirwana verschwinden. „Der Austro-Terrorismus hat a Goschen voller Plomben. In Irland werfen’s echte, doch bei uns nur Schwedenbomben.“ So reimte der linke Alternativ-Rocker Heli Deinboek in den Siebzigern für die noch rabiatere Band „Drahdiwaberl“ im seinerzeitigen Kult-Song „Der Killer vom Billa“. Ja, es ging um die Schwedenbomben. Keine Ahnung, warum die Dinger so heißen. In Deutschland heißen die „Grabower Küsschen“ oder auch „Schokoküsse“ oder auch „Super Dickmanns“. Es ist genau genommen dasselbe. Unterschiedlich ist die Qualität des schokokrustenumhüllten Schaumes. Unterschiedlich ist, wie bei allen Schokoladenprodukten, die Qualität der verwendeten Schokohülle. Die Schwedenbomben gibt es in zwei Fassungen: einmal mit und einmal ohne Kokosraspeln auf der Schokolade. Das ist eine Glaubensfrage. Aber der Reihe nach.
Erfunden wurden die „Schwedenbomben“ 1926 gemeinsam mit Gattin Johanna vom aus Linz stammenden Konditor Walter Niemetz. Der gründete zu Beginn der neunzehnhundertdreißiger Jahre in Wien-Landstraße eine Manufaktur, die sich der Produktion dieser Köstlichkeiten widmete. Es gab – und gibt – zwei Verkaufsfilialen: ein Konditorei-Café in Linz (das eigentliche Stammhaus) und ein Konditorei-Café in Salzburg. Niemetz-Tochter Ursula ging 1989 in die USA, gründete dort eine weitere Verkaufsfiliale und brachte von dort ihren Lebenspartner Steve A. Batchelor mit. Der ist seit 2011 Geschäftsführer der Firma. Firmenerbin Johanna übertrug ihm 20 Prozent der Anteile des Unternehmens, sie selbst hält 80 Prozent. Neben dem Hauptprodukt, eben diesem martialisch daherkommenden Hühnereiweißschaumklecks mit Schokoumrandung, werden im Wiener Betrieb noch zwei Schokoriegel erzeugt, die ungefähr so dröge schmecken wie der online-Auftritt des Unternehmens daherkommt. Die Salzburger Nachrichten vermeldeten für 2012 einen Absatzrückgang der Walter Niemetz Süßwarenfabrik von gut 20 Prozent (statt 1.000 Tonnen 2010 wurden nur noch 600 Tonnen verkauft). Branchenspezialist Peter Schnedlitz diagnostizierte im Ö1-Mittagsjournal zu Beginn des Monats mangelnde Innovationslust der Firma – wer einmal im Geschäft des Konkurrenten Manner neben dem Wiener Steff’l war, wird das bestätigen können –, fehlendes Marketing und veralteten Maschinenpark. Zudem: „Die Schwedenbomben sind aber irgendwo in Vergessenheit geraten, weil sie eher lieblos am Regal präsentiert worden sind.“ Der Absatzrückgang ging einher mit dem Aufhäufen eines Schuldenberges in Höhe von etwa fünf Millionen Euro, davon seien nach Aussage des Alpenländischen Kreditorenverbandes drei Millionen fällig. Die Wiener Die Presse spricht von „rund 70 Gläubigern und 66 Dienstnehmern“. Am 1. Februar stellte Niemetz einen Antrag auf ein „Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung“. Das nennt man Insolvenz.
Und da geschah es: Über Nacht waren in ganz Österreich die „Schwedenbomben“ vergriffen. Die Agentur APA berichtete von einem Tiroler Solarunternehmen, das für seine Mitarbeiter am 4. Februar 864 Schwedenbomben zur Jause kaufte. Eine Welle zumindest medialer Solidarität ließ das Land vibrieren und kleisterte selbst das miserable Abschneiden der heimischen Ski-Heroen bei der Schladminger Abfahrts-WM zu. Die Kulinarik-Journalistin Katharina Seiser beschrieb dieses Phänomen im Standard: „An meine letzte Schwedenbombe kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich vermisse sie nicht, obwohl sie mir damals geschmeckt hatten. Wie fast allen Kindern in Österreich. Die erwachsen gewordenen Kinder wollen jetzt die Schwedenbombe ‚retten’.“ Eine gewisse Petra Baumgartner aus Niederösterreich gründete eine Facebook-Gruppe „Rettet die Niemetz Schwedenbomben“ – und handelte sich am 7. Februar prompt eine Sperre ihres Profils ein. Facebook stellte „Suspicious activities from IP“ („verdächtige Aktivitäten“) fest. Die Amerikaner erschraken offensichtlich darüber, dass binnen kurzem in einem kleinen Teil des ehemaligen Großdeutschen Reiches 41.130 Freunde einer Bombenversion auftauchten. Inzwischen ist die Seite wieder frei geschaltet worden und Frau Baumgartner bedankte sich artig bei „Herrn Zuckerberg, dass er sich so um meine Sicherheit sorgt.“ Zuckerberg „passt“, sagt man in Österreich.
Jetzt läuft in Wien-Landstraße wieder das Band. Die Schulden sind nicht erledigt, aber man hat eine „Factoring-Finanzierung“ in die Wege geleitet – also den Verkauf  der Gläubiger-Forderungen an eine zwischengeschaltete Bank. Niemetz hat damit einen gewissen Liquiditätsschub erhalten und kann zumindest die Rohstoffe für die laufende Produktion bezahlen. Die Bezahlung der ausstehenden Mitarbeitergehälter übernimmt der Insolvenzfonds. Nach Gewerkschaftsangaben hatten 50 Arbeiterinnen und Arbeiter in der ersten Februarwoche ihre Januarlöhne noch nicht ausgezahlt bekommen, 20 Angestellte erhielten eine Teilzahlung von jeweils 1.000 Euro.
Neu ist das alles übrigens nicht. Bereits 1996 berichtete das Wiener HandelsBlatt, dass Niemetz „Troubles mit der Schwedenbombe“ habe. 95 Millionen Schilling Umsatz standen damals 50 Millionen Schilling Bankverbindlichkeiten gegenüber. Auch seinerzeit wurde hinter vorgehaltener Hand die deutsche Konkurrenz (Storck mit den „Dickmanns“) beschworen. Die winkten aber damals nur ab: „Wir haben eine breite Angebotspalette an Süßwaren und müssen unseren Umsatz nicht alleine mit Schaumwaren bestreiten.“ „Schwedenbomben“-Chef Batchelor erklärte hingegen, dass man „in erster Linie den Standort Österreich sichern“ wolle. Dazu hatte man die Idee, die Schokoküsse in den Supermärkten aus den Regalen weg in die Kassenbereiche zu platzieren… und natürlich Personalabbau. 25 Prozent der Mitarbeiterschaft wurden gefeuert.
Zu den weiteren kreativen „Sanierungsschritten“ zählte Ende 2012 der Verkauf des Wiener Firmengeländes. Bis 2015 darf man dort noch produzieren. Bei einem Umzug könnte man sich wenigstens des nach Experteneinschätzung überalterten Maschinenparks entledigen – wenn denn das Firmenkapital Neuanschaffungen erlaubte. Bereits in den Jahren 2009 und 2010 hatte man jeweils acht Millionen Euro Schulden, das negative Eigenkapital belief sich auf 3,3 Millionen. Die Firmeninhaber sollen nach Informationen des Standard „mehrere 100.000 Euro im Jahr“ aus dem Unternehmen entnommen haben. Immerhin haben sie wohl auch mit diesen Mitteln einen Gnadenhof für Pferde gegründet. Inzwischen hat selbst Geschäftsführer Batchelor begriffen, dass man investieren müsse („Es braucht Investitionen, das ist klar“, erklärte er völlig überraschend der Salzburger Zeitung) – und träumt zugleich tapfer weiter vom „Riesenpotenzial der Firma in Österreich und den Nachbarländern.“
In der Perspektive läuft es wohl auf eine Übernahme der Marke durch einen Konkurrenten hinaus. Die Wiener Familienbetriebe Heindl (Jahresumsatz etwa 13,8 Millionen Euro) und Manner (etwa 170 Millionen Euro) haben Interesse signalisiert. Die Furcht vor dem deutschen Großkonkurrenten Storck scheint auch diesmal unbegründet.
Aufschlussreich hingegen ist, wie der durch jahrelanges Missmanagement herbeigeführte Niedergang eines mittelständischen Unternehmens gerade in Österreich eine wirtschaftspolitische Debatte wieder anheizt, die in Zeiten der aktuellen Krise einen gefährlichen Drive entwickeln kann – auch in der Alpenrepublik stehen demnächst wieder diverse Wahlen an: „Die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Waren und Dienstleistungen [der mittelständischen Unternehmen – W. Brauer] sinkt, die Arbeitskosten steigen, während die Kaufkraft der Beschäftigten nur schwach wächst. Und das deshalb, weil der Staat über Steuer und Sozialversicherung immer größere Teile des Produktivitätswachstums für sich beansprucht.“ So Franz Schellhorn in der konservativen Die Presse. Dem auch nicht gerade linkslastigen Kurier blieb es hingegen vorbehalten, die Schlafmützigkeit des Hauses Niemetz zu konstatieren: „Man lebt seit  Jahrzehnten von der historischen Substanz – und wenn’s dann im Gebälk bröckelt, ist die Globalisierung schuld, der Kapitalismus oder einfach Brüssel.“
Auf dem Höhepunkt des „Schwedenbombenaufstandes“ habe ich übrigens Mozart-Torte gegessen. In der Salzburger Brod-Gasse 13 in der „Confiserie Fürst“. Dort wurden die Mozart-Kugeln erfunden. Auch ein Traditionsprodukt.