von Mathias Iven
Schon viel ist über das Verhältnis von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner geschrieben worden. Angefangen bei Nietzsches Schwester, die anlässlich des 70. Geburtstages ihres Bruders im Jahre 1914 alle „verfügbaren“ oder sollte man besser sagen alle von ihr zensierten Dokumente zusammentrug, um „aus jener Zeit der wärmsten Freundschaft nur die innigsten Klänge ertönen [zu] lassen“. Nach Jahrzehnten der Forschung lässt sich die „Geschichte einer Hassliebe“, wie sie Kerstin Decker in ihrem jüngsten Buch betitelt, heute en détail nachvollziehen. Nicht zuletzt verdanken sich solcherart Einsichten der von Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda herausgegebenen umfangreichen Materialsammlung Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung oder auch dem vor wenigen Jahren erschienenen Wagner-Nietzsche-Handbuch.
Kerstin Decker nähert sich den beiden Geistesgrößen, deren Begegnung für sie „in der deutschen Geistesgeschichte nur der Goethes und Schillers vergleichbar“ ist, auf die ihr eigene, sehr persönlich-emphatische Art. Dabei wagt sie es, „immer wieder vorsätzlich aus der Perspektive der Porträtierten“ zu sprechen. Die biographischen Fakten und das Quellenmaterial werden (trotz mancher Zitatungenauigkeiten) kenntnisreich, wenn auch manchmal etwas ausufernd, zu einer sich immer wieder berührenden Parallelerzählung verwoben. Diese geht zwar nicht über Bekanntes hinaus, liest sich aber flüssig und gestattet es dank der zahlreichen Exkurse selbst dem Uneingeweihten, sich in diesem von Missverständnissen durchzogenen Beziehungsgeflecht zurechtzufinden.
Leipzig, 8. November 1868: Im Hause des Orientalisten Hermann Brockhaus in der Querstraße 15/16 findet an diesem Abend die erste Begegnung von Nietzsche und Wagner statt. „Der Student“, so Decker, „begrüßt den Gott.“ Nietzsche, der sich bereits über Jahre hinweg mit Wagners Werk beschäftigt hat, steht dem Ganzen in mancherlei Hinsicht distanziert gegenüber. Doch das „Erlebnis Wagner“ verändert alles. Er trifft auf eine schöpferische, vor allem aber selbstbewusste Persönlichkeit, der es um nichts weniger als um die Erneuerung der deutschen Kultur geht. Vor Nietzsche steht „die leibhafte Illustration, dessen, was Schopenhauer ein ,Genie‘ nennt“. Jahre später wird er sich allerdings fragen: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit?“
Erst einmal trennen sich beider Wege wieder, jedoch schon ein halbes Jahr später wird sich für Nietzsche die Möglichkeit eines regelmäßigen Umgangs mit dem Meister eröffnen …
Tribschen, 17. Mai 1869: Nietzsche stattet dem seit 1866 auf dem ehemaligen Landsitz der Patrizierfamilie Am Rhyn ansässigen Richard Wagner und dessen zukünftiger Frau Cosima von Bülow seinen Antrittsbesuch ab. Er lebt erst seit wenigen Tagen in der Schweiz. Im Februar hatte er den Ruf an die Basler Universität erhalten. Decker stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es für Nietzsche um mehr als den Einstieg in die akademische Karriere ging? Verstand er den Ruf und die damit einhergehende Nähe zu Wagner gar als „Berufung“?
In den kommenden Jahren zieht es Nietzsche wiederholt nach Tribschen. Wagners am Vierwaldstätter See gelegene Villa wird Nietzsches „Italien“. Rasch entwickelt sich ein herzliches Verhältnis. Nietzsche lebt hier, wie er der Mutter nach Naumburg berichtet, „in der angeregtesten Unterhaltung, im liebenswürdigsten Familienkreise und ganz entrückt von der gewöhnlichen gesellschaftlichen Trivialität“. Mit Wagner wird eine „Alliance“ geschlossen: Nietzsche will sich ganz in dessen Dienst stellen und für das zukünftige Bayreuther Unternehmen wirken.
Mit der Auslieferung von Nietzsches Geburt der Tragödie im Januar 1872 bahnt sich ein Skandal an. Wagners Anhänger sind begeistert, Nietzsches Kollegen von der philologischen Zunft fühlen sich durch die verkündete „Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik“ und von dem Anspruch einer durch Wagners Musikdramen herbeigeführten Erneuerung der deutschen Kultur provoziert. Nietzsche hat seinem akademischen Ansehen geschadet – wäre es da nicht besser, für ein paar Jahre seine Professur ruhen zu lassen und für den Meister zu wirken? Wagner hält ihn zurück.
Als die Wagners im Frühjahr 1872 nach Bayreuth übersiedeln, gibt es einen tiefbewegten Abschied. Nietzsche bleibt nur die Erinnerung: „Diese drei Jahre, die ich in der Nähe von Tribschen verbrachte, in denen ich 23 Besuche dort gemacht habe – was bedeuten sie für mich! Fehlten sie mir, was wäre ich!“ – Ein Jahrzehnt später kehrt er in Begleitung von Lou Salomé noch einmal an diesen Ort zurück. „Lange, lange saß er dort schweigend am Seeufer, in schwere Erinnerungen versunken“, so schildert es Lou, „dann, mit dem Stock im feuchten Sande zeichnend, sprach er mit leiser Stimme von jenen vergangenen Zeiten. Und als er aufblickte, da weinte er.“
Sorrent, 2. November 1876: Eingeladen von der Nietzsche seit der Bayreuther Grundsteinlegung 1872 bekannten Schriftstellerin und Wagner-Verehrerin Malwida von Meysenbug wohnen er, der Philosoph und Psychologe Paul Rée sowie Nietzsches ehemaliger Student Albert Brenner in der Villa Rubinacci. Das am Golf von Neapel gelegene Haus bietet ideale Arbeitsbedingungen. Meysenbug hält Störungen fern und kümmert sich um die Einhaltung des streng geregelten, durch „Nachdenken, Freundschaft, Aussinnen, Hoffen“ bestimmten Tagesablaufs. Was Nietzsche bei seiner Ankunft nicht weiß: Nur wenige Gehminuten entfernt, im Grand Hotel Vittoria, logieren Richard Wagner und seine Familie.
Noch einmal treffen die beiden Kontrahenten aufeinander. Ein letzter gemeinsamer Spaziergang. Haben Nietzsche und Wagner jetzt ihren auf Parsifal anspielenden, von Decker so genannten „Abendmahlsstreit“? Bereits bei ihrer letzten Begegnung in Bayreuth herrschte eine gewisse Distanz im Umgang. Die von Nietzsche anfangs zurückgehaltene und nur der eigenen Orientierung für Wert befundene Schrift „Richard Wagner in Bayreuth“ war pünktlich zu den ersten Festspielen des Jahres 1876 erschienen. Mit dieser vierten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ verwies Nietzsche auf den Widerspruch zwischen Wagner dem Musiker und Wagner dem Schauspieler. Der Visionär verschwand allmählich hinter dem Geschäftsmann. „Ich erkannte Nichts wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder.“ Das Kunstwerk Bayreuth blieb Nietzsche fremd: „Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden!“
Nachspiel: Bereits zum Jahresende 1888 kündigt sich Nietzsches Zusammenbruch an. Die ersten der mit „Dionysos“ oder „Der Gekreuzigte“ unterzeichneten „Wahnsinnsbriefe“ erreichen ihre Empfänger. Ein am 6. Januar 1889 an Jacob Burckhardt gerichtetes Schreiben alarmiert Nietzsches langjährigen Basler Freund Franz Overbeck. Als dieser in Turin eintrifft, bietet sich ihm ein erschreckendes Bild. Vor sich hat Overbeck „einen nur für den Freund kenntlichen Trümmerhaufen“. Er findet Nietzsche „in einer Sophaecke kauernd und lesend – wie sich dann ergab die letzte Correctur von Nietzsche contra Wagner“. Wagner bis zuletzt. –
Eine Geschichte geht zu Ende, für die Autorin „eine Tragödie, beinahe eine griechische“. Für den Leser vielleicht der Auftakt zu einer näheren Beschäftigung mit den Hauptdarstellern – zumal mit Blick auf das anstehende Wagner-Jahr 2013.
Kerstin Decker: Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe, Propyläen Verlag, Berlin 2012, 413 Seiten, 19,99 Euro
Schlagwörter: Friedrich Nietzsche, Kerstin Decker, Mathias Iven, Propyläen Verlag, Richard Wagner