16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Kurz & bündig

Bittere Erfahrungen

Seit 1945 die „Farm der Tiere“ und vier Jahre später „1984“ erschienen, ist mit George Orwells (eigentlich Eric Arthur Blair) Namen literarischer Weltruhm verbunden. Und wiewohl schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens klar war, dass beide Bücher sich aus dem nährten, was später unter dem Begriff Stalinismus subsummiert wurde, war durchaus lange nicht jedermann ersichtlich, aus welch sehr persönlichen und bitteren Erfahrungen heraus Orwell diese Texte verfasst hatte, deren prophetische Warnung vor den Folgen dieser Entartung einer ursprünglich sozialistischen Idee jenen satirischen Charakter verlor, den ihr Autor ihnen ursprünglich zugemessen hatte. Dass diese Erfahrungen aus Orwells Teilnahme als Freiwilliger am Spanischen Bürgerkrieg rührten, konnte zumindest (zunächst west-) deutschen Lesern klar werden, als Orwells 1938 herausgegebene, aber erst 1964 auf Deutsch erschienene Reportage „Mein Katalonien“ zu lesen war. Was Orwell, der – obwohl nicht deren Mitglied – in den Reihen der anarchistisch orientierten POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit) kämpfte, in Spanien erkennen musste, hat ihn desillusioniert: der „politische Krieg hinter der Front“, dessen maßgeblichste Kraft der stalinistische Terror war; die POUM war einer seiner prominentesten Opfer. „Jede Zeile der wesentlichen Arbeiten, die ich seit 1937 geschrieben habe, ist direkt oder indirekt gegen das totalitäre System und für den demokratischen Sozialismus“, hat Orwell in einem Essay später seine persönliche Lehre aus seiner Zeit im Spanischen Bürgerkrieg zusammengefasst. Die Sammlung und Erläuterung seiner Erlebnisse und Erkenntnisse durch Louis Gill geben darüber erhellenden wie beklemmenden Ausdruck.

Jens Koppe

Louis Gill: George Orwell. Vom spanischen Bürgerkrieg zu 1984, Edition AV, Lich/Hessen 2012, 165 Seiten, 16 Euro

Abendroths Balancen

Wolfgang Abendroth darf unter bundesrepublikanisch linken Politologen seiner Zeit getrost als wirkungsmächtig genannt werden. Was den Initiatoren dieses Buches allerdings dringlich schien, ist, das bis heute gern gepflegte Bild ungebrochener Kontinuität im Abendrothschen Denken kritisch zu betrachten. Gestützt auf aussagekräftige Quellen weist Uli Schöler nun vielmehr nach, dass nicht nur Abendroths Wandel von seiner ursprünglich kommunistischen Prägung zum antitotalitären Kritiker des Stalinismus zu seinen biografischen Brüchen zählt. Ebenso ist hier Abendroths fast schon apologetisch zu nennender Blick zu nennen, mit dem er den „realen Sozialismus“ in der DDR längere Zeit betrachtete, um davon erst sehr spät wieder Abschied zu nehmen. Die zentrale Rolle spielte dabei Abendroths nach 1968 entwickeltes und durchaus verhängnisvoll zu nennendes Paradigma von der Unvermeidbarkeit negativer Entwicklungen innerhalb revolutionärer Prozesse, Terror nicht ausgeschlossen. Die angebliche Notwendigkeit ihrer Inkaufnahme war freilich ein gefundenes Fressen für „Revolutionäre“, die den Stalinschen Gedanken vom sich immer weiter verschärfenden Klassenkampf noch weit nach dem Tod des Diktators für ihre demokratiefeindliche Politik nach Innen zu nutzen wussten. Eine verdienstvolle Arbeit, die schon deshalb zu lesen lohnt, weil besagte „Unvermeidbarkeit“ zumindest in Teilen der Linken nach wie vor als Rechtfertigung für eigenes Tun und Lassen im Realsozialismus in Anspruch genommen wird.

Astrid Scholz

Uli Schöler: Wolfgang Abendroth und der „reale Sozialismus“, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2012, 216 Seiten, 19,95 Euro

Vom Vorzug mieser Stimmung

„Höher, schneller, weiter“ – diese olympische Maxime ist längst auf den außersportlichen Sektor menschlichen Daseins übertragen worden. Nur, dass es um „Schöner, gesünder, erfolgreicher“ geht, wenn der Mensch sich den Zwang zur Selbstoptimierung auferlegt. Und: dass dies tragikomischer Weise zu deutlich schlechterem Befinden führt als ein nicht manipuliertes Leben mit sich selbst; Depressionen und Burnouts treten in unserer Gesellschaft immer inflationärer auf. Der renommierte Psychologe und Therapeut Arnold Retzer ist mit der Materie dieses Buches tief vertraut. Und er hat sich entschlossen, für einen Paradigmenwechsel einzutreten, dessen Phänomene wie Heldentum, Fehlerlosigkeit, Erfolg, Spaß, Autonomie, Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Optimismus, Gewissheit, Wissen und Glaubensfestigkeit abgewertet gehören, da sie als absolute Wertvorstellungen gravierend für jene miese Stimmung mitverantwortlich sind, die in (nicht nur) unserem Gemeinwesen allweil obwaltet. Was Retzer hingegen aufgewertet wissen möchte sind Zustände und Phänomene wie etwa Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Pessimismus, Abhängigkeit, Ungewissheit, Scheitern, weil diese zum menschlichen Wandel auf Erden lebensnotwendig dazugehören und für eine lebensfähige Authentizität unersetzlich sind. „Ich möchte zeigen, wie sich Zeitgeist, Kultur, Weltverständnis, Lebensentwurf und unsere schlechte Stimmung, unsere Ängste und Depressionen wechselseitig bedingen und dass das bisher für tauglich gehaltene heute offenbar einem neuen Denken Platz machen muss“, erklärt Retzer sein Anliegen. Wie er es umsetzt, ist – bis in die Lebendigkeit seiner Darstellung hinein – sehr lesens- und nachdenkenswert, auch, wenn zu befürchten ist, dass dies ein Kampf gegen Windmühlenflügel wird …

Peter Zenker

Arnold Retzer: Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 334 Seiten, 19,99 Euro

Gab es das überhaupt?

Je länger die DDR verblichen ist, desto öfter taucht diese Frage auf – nicht nur bei Nachgeborenen, auch Zeitzeugen sind sich nach mehr als 20 Jahren gelegentlich unsicher. Viele der Fragen sind allerdings unübersehbares Ergebnis von Nicht- oder Desinformation der Nachwendezeit: Die DDR muss im Sinne der Sieger nun mal mausetot bleiben. Ganz in diesem Sinne ward und wird von den heutigen Lufthoheitlern der Geschichtsschreibung eliminiert und umgedeutet, was das tiefschwarze Gesellschaftsbild dieses Gemeinwesens auch nur aufzuhellen in der Lage wäre. Das Ergebnis dieser wissentlich erzeugten Bildungsferne treibt zuweilen die ebenso abenteuerlichsten wie idiotischsten Blüten, an denen die Mitarbeiter des Ministeriums für Wahrheit in Orwells „1984“ bei ihrer permanenten Geschichtsklitterung ihre helle Freude hätten.
Nicht zuletzt diese Erfahrung, die Georg Wenzel persönlich gemacht hat, als er nachwendig im Westen auf Fragen wie diese stieß: „Durfte denn Thomas Mann in der DDR überhaupt gelesen werden?“, hat den Literaturwissenschaftler, der sich in der DDR um Thomas Mann und sein Werk engagiert bemühte, zu einer aufschlussreichen Schrift veranlasst, die jetzt in der Edition Schwarzdruck vorliegt. Wenzel, der von 1966 bis 1971 das Thomas-Mann-Archiv an der DDR-Akademie der Wissenschaften leitete, ist ein höchst sachkundiger Chronist des Bemühens der DDR um Thomas Mann samt ihrer freilich nie völlig ausgeräumten ideologischen Vorbehalte und gar Volten, die nicht zuletzt zur Auflösung besagten Mann-Archivs führte. Nicht aber, um der Person oder gar dem Autor Thomas Mann die Ehrerbietung zu entziehen. Was trotz widriger Umstände in Sachen Lizenzen für Titel-Rechte schon ab 1952 Zug um Zug im Aufbau-Verlag erschien, kann sich – bei Menzel detailliert nachzulesen – ebenso sehen lassen wie Vielzahl und Güte der literaturwissenschaftlichen Publikationen und Aktivitäten zu Person und Werk. Das Fazit: Die Bücher Thomas Manns – wiewohl nirgendwo Gegenstand einer massenhaften Rezeption – waren aus der Kultur der DDR nicht wegzudenken. Über eine Million Exemplare hat der Aufbau-Verlag über die Jahre trotz besagter Schwierigkeiten unter die DDR-Leser gebracht – einige davon in solch bibliophiler Vollkommenheit, dass Mann sich dafür nahezu überschwänglich bedankte.
Eine informative und sowieso sachkundige Schrift, die mindestens Thomas-Mann-Verehrern nur zu empfehlen ist.

hwk

Georg Wenzel: Gab es das überhaupt? Thomas Mann in der Kultur der DDR, Edition Schwarzdruck, Gransee 2011, 178 Seiten, 20,00 Euro

Konkurrente Kampfgefährtin

Es ist – zumindest in intellektuellen Kreisen – ein neues Interesse an der Weltbühne entstanden; jener linksliberalen Wochenschrift, die ihre Leser vor allem in den verhängnisvollen Jahren der Weimarer Republik abseits ideologischer Gewissheiten per hellsichtiger antifaschistischer Aufklärung und Debatte versammelte und aktivierte bis zu ihrem Verbot im Frühjahr 1933 und der Verfolgung jener, die für sie tätig waren.
Völlig zu Unrecht nahezu vergessen ist eine andere Wochenschrift jener Zeit: Das Tagebuch, erschienen im gleichen A-5- Format wie die Weltbühne, grün statt rot im Äußeren, ebenso linksliberal allerdings in ihrem Innern, ebenso Schwester- wie Konkurrenzzeitschrift zur Weltbühne, mit ebenso renommierten Autoren (wie etwa Walter Mehring, Herbert Ihering oder Ludwig Marcuse, Alfred Döblin, auch Thomas Mann) wie sie die Weltbühne aufzubieten hatte, substantiell indes auch immer deren nahestehende Kampfgefährtin, wenn auch ein jeder seine Leser bediente und man miteinander gelegentlich quer lag.
Das Büchlein, in dem Fritz J. Raddatz ein Porträt dieser Publikation zeichnet, ist schmal. Und es ist betagt, immerhin ist es im Athenäum Verlag bereits 1981 erschienen. Doch wer sich für die Weltbühne heute wieder mehr interessiert als zuvor, sollte sich zumindest in diese 78 Seiten vertiefen, die – nicht zuletzt durch erhellende Textauszüge – ein konturiertes Bild des von Leopold Schwarzschild herausgegebenen und maßgeblich redigierten Blattes zeichnen ( in dem Carl von Ossietzky übrigens bis zu seinem Wechsel zur Weltbühne fünf Jahre als allein verantwortlicher Redakteur wirkte); geeignet, sich per weiterer Literatur, vor allem aber über antiquarische Originale ein eigenes davon zu machen.
1920 ins Leben getreten, wurde – der Weltbühne gleich – im Frühjahr 1933 auch das Tagebuch verboten. Und gleich der Weltbühne fand es im Exil eine zeitweilige Weiterführung, im Fall des in Paris herausgegebenen Neuen Tagebuchs bis 1940, jenem Jahr, in dem Schwarzschild in die USA emigrierte.
Was Leopold Schwarzschild betrifft, so musste Raddatz bereits 1981 betrübt feststellen, dass sich Nachkriegsdeutschland an ihn nicht erinnern wollte, von einer verdienten Ehrung ganz zu schweigen. „Es ist gute Zeit“, so Raddatzens letzter Satz, „seiner zu gedenken.“
Dazu ist es auch heute nicht zu spät. Und lohnend allemal.

HWK

Fritz J. Raddatz: Das Tagebuch. Portrait einer Zeitschrift, Athenäum Verlag, Königstein/Taunus 1981, 78 Seiten. Erwerb nur auf antiquarischem Wege möglich.