von Thomas Ruttig
Die afghanische Regierung will dringende Schritte ergreifen, um einen zunehmenden Exodus seiner Diplomaten ins Ausland zu stoppen. Das Außenministerium in Kabul sei besorgt über die Zahl seiner Angestellten, „die es vorziehen, nach dem Ende ihrer Mission im Ausland zu verbleiben“, schreibt die liberale Kabuler Tageszeitung Hascht-e Sobh (Acht Uhr morgens). Man wolle deshalb deren Bezüge erhöhen, Privatwohnungen in der afghanischen Hauptstadt bereitstellen. Das Ministerium reagiert damit auf Berichte afghanischer Journalisten, die herausgefunden hatten, dass 40 Prozent aller afghanischen Diplomaten nach ihrem Auslandseinsatz nicht in ihr Land zurückkehren.
Doch die Diplomaten sind nur die Spitze des Eisberges. Angesichts des für Ende 2014 geplanten Endes des NATO-Kampfeinsatzes in Afghanistan und der weiterhin höchst instabilen Sicherheitslage setzen sich immer mehr Afghanen ins Ausland ab. Ein BBC-Bericht zählt auf, dass „hunderte afghanische Regierungsbeamte einschließlich von Angestellten des Präsidialamtes“, 70 Journalisten, 60 Sportler und zahlreiche Studenten nicht von Auslandsaufenthalten zurückgekehrt seien. Die USA haben ihre Stipendiatenprogramme für Afghanistan bereits reduziert. Ein Bericht der dänischen Regierung zitiert UN-Quellen, denen zufolge „viele Minister ihre Familien im Ausland untergebracht haben, um nach dem Abzug der ausländischen Truppen zum Verlassen des Landes bereit zu sein“. Im Dezember zitierte die Basler Zeitung einen indischen Diplomaten, dem zufolge 20 hohe afghanische Offiziere in Neu-Delhi vorstellig geworden seien und um Asyl für ihre Familien gebeten hätten.
Insgesamt beantragten im vergangenen Jahr laut UN-Flüchtlingskommissariat etwa 43.000 Afghanen in westlichen Industriestaaten Asyl, 30 Prozent mehr als im Jahr davor. 28.000 waren es in allen EU-Ländern, mehr als je zuvor in den letzten zehn Jahren. Hauptaufnahmeländer sind Deutschland und die Türkei; in der Bundesrepublik stellten 6898 Afghanen (2011: 7767) einen Asylantrag. Dazu kommen zahlreiche, oft nicht registrierte Flüchtlinge in Ländern der Region. Auch die Zahl nach Afghanistan zurückkehrender Flüchtlinge – meist aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran – verlangsamte sich in den letzten Jahren deutlich.
Im Wirtschaftssektor flieht vorerst „nur“ das Kapital. Nach letzten vorliegenden Zahlen aus 2011 betrug der offiziell deklarierte Abfluss aus Afghanistan umgerechnet etwa 4,6 Milliarden US-Dollar, was etwa dem aktuellen Jahresgesamtbudget des Landes entspricht. Die Gesamtinvestionen in die afghanische Wirtschaft lagen 2012, trotz eines Anstiegs um ein Viertel, bei nur 463 Millionen US-Dollar. Der Direktor der afghanischen Industrie- und Handelskammer, Mohammad Kurban Hakdschu, sagte kürzlich, die Chefs der vier größten Telekom-Gesellschaften des Landes hätten ihm mitgeteilt, sie würden nach 2014 ihre Investitionen aus Afghanistan herausziehen. Laut der staatlichen Investitionsagentur AISA schloss im vergangenen Jahr jedes fünfte klein- oder mittelständische Unternehmen. Die Asiatische Entwicklungsbank hat ihre Wachstumsprognosen für Afghanistan bereits nach unten korrigiert und mitgeteilt, das habe „direkt mit der Reduzierung der Auslandshilfe zu tun“. Der größte Geber, die USA, halbierten 2012 ihre Entwicklungsgelder bereits fast von 4 auf 2 Milliarden US-Dollar. Immobilienpreise in der besseren Lagen Kabuls sanken um 25 bis 30 Prozent.
Manche Fälle von Exodus aus Afghanistan haben aber auch einen direkteren politischen Kontext. Der prominenteste Fall ist der des afghanischen Journalisten, Analysten und politischen Aktivisten Hossain Yasa, der sich nach mehreren Verhören durch den afghanischen Geheimdienst gezwungen sah, aus dem Land zu fliehen. Hintergrund scheint das Eintreten Yasas, der zur oft diskriminierten Volksgruppe der Hasara gehört, für einen föderalistischen Staatsaufbau zu sein, ein Thema, auf das Karsai und seine Anhänger – Vertreter eines starken Zentralstaates – höchst allergisch reagieren.
Auch die Minderheiten der seit mehreren Jahrhunderten in Afghanistan lebenden Hindus und Sikhs bekommen zunehmenden Druck zu spüren. Sie leiden unter zunehmenden Angriffen intoleranter muslimischer Mitbürger. In mehreren Fällen wurden für sie heilige Begräbnisstätten entweiht und Tempel angegriffen. Im vorigen August schrieb deshalb ihre Interessenvertretung, der All-Afghanische Rat der Hindu- und Sikh-Gemeinschaften, an die UNO und bat um die Bereitstellung eines Zufluchtsortes im Ausland. „Um die Wahrheit zu sagen, wir sind weniger glücklich unter Präsident Karsai als wir es unter den Taliban waren“, erklärte Ratssprecher Awtar Singh Khalsa. Von den 20.000 Hindus und Sikhs in Afghanistan, die dort zu Beginn der 1990er-Jahre lebten, sind nur etwa 3.000 geblieben. Auch diese Entwicklung will die Regierung nun stoppen. Senatorin Anar Kali Hunarjar, selbst eine Sikh, verwies auf den Plan, ein gesondertes modernes Wohngebiet für Sikhs und Hindus zu errichten.
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