von Hans-Dieter Rutsch
Jahreswechsel sind für Publizisten und andere Medienmacher günstige Gelegenheiten, unter komplizierte Themen mit lässiger Hand einen Schlussstrich zu ziehen. Begründungslos glückt so der abrupte Ausstieg aus eben gerade noch hochaktuellen Themenwelten. Aber es ist ein Ausstieg ohne Inventur. Eine Überprüfung, mit welchem Wahrheitsgehalt und welchem Zugewinn zurückliegende Debatten oder Heiligsprechungen geführt wurden – nicht nötig. Ein Ruck in der Abfolge von Jahreszahlen und ein Satz, der unbewiesen Bundeskanzler Konrad Adenauer zugeschrieben wird, gestattet die arrogante Haltung: „Wat kümmert mich mein Jeschwätz von Jestern!“ Das neue Jahr schwemmt neue Jahrestage und die nächsten Themen heran. Vergessen ist das vorjährige Gezänk über Revolutionen und Kriege, abgelegt in der verstaubten Erinnerungskammer der menschlichen Population. Bis zum nächsten Jubiläum. Dabei würde es sich lohnen, aus dieser beschämenden geistigen Buchhalterei auszusteigen. Auch in Schlesien. Aber dort tut sich etwas. Ausgerechnet um den historischen Fall „Gerhart Hauptmann“.
2012 wurde auch in Polen als „Gerhart-Hauptmann-Jahr“ begangen. Neben interessanten Inszenierungen an Theatern plante das landesweite staatliche Fernsehen, umfassend das Verhältnis der polnischen Nachkriegspolitik zu dem eigenwilligen deutschen Nobelpreisträger in Schlesien zu beschreiben. Dieser Konflikt hat es in sich. Knapp formuliert: Hauptmann hat sich bis zu seinem Tod im Sommer 1946 der Vertreibung aus seiner Heimat erfolgreich und mit viel Symbolkraft widersetzt. Nicht einmal der Tod des Dichters beendete das Tauziehen. Die polnischen Behörden verweigerten eine Bestattung und verlangten eine „Ausfuhr“ der sterblichen Überreste. Zugleich aber weigerten sie sich, die dafür notwendigen Fahrzeuge oder Eisenbahnwaggons zur Verfügung zu stellen. Erst durch Druck aus Moskau kam Bewegung in den „Fall“. Die neue Regierung in Warschau gab nach. Aber zuvor stand der verlötete Zinksarg sechs Wochen im Haus am Wiesengrund.
Der Versuch, eine heutige polnische Lesart für die damaligen Ereignisse zu suchen, konnte aber auch im Hauptmann-Jahr nicht gefunden werden. Die Premiere eines in Produktion befindlichen Filmes über Gerhart Hauptmann – angedacht mit prominentem deutschen Besuch in Wrocław – verschob das polnische Fernsehen als Produzent auf den Sommer 2013. So etwas geschieht nicht nur einfach so. Den polnischen Kollegen verlangt ein solcher Film ein hartes Stück Arbeit ab. Deutsche Historiker und Nachfahren von Zeitzeugen sind zurückhaltend in ihrer Bereitschaft, sich für dieses Projekt in Interviews zu äußern. Sie wissen ja nicht, in welchen Zusammenhängen welche ihrer Aussagen montiert werden. Das Projekt berührt Stereotype des polnischen Nachkriegsdenkens auf schmerzliche Weise. Erstens muss ein ehrlicher und unvoreingenommener Film – so jedenfalls der Anspruch – das polnische Verhältnis zu den ehemaligen sowjetischen Besatzungstruppen beschreiben. Aber wie, wenn polnisch-russische Beziehungen bis heute – erst recht nach dem furchtbaren Flugzeugunglück bei Smolensk, bei dem die gesamte polnische Regierung 2010 starb – noch so emotionsgeladen sind? Jeder polnische Satz über die Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen wird in Moskau mit feinster Sensorik registriert. Zweitens rückt jede Beschäftigung mit Gerhart Hauptmann das Verhältnis der Polen zur völkerrechtlichen Dimension der Vertreibung der Deutschen aus den heute westpolnischen Gebieten problematisierend in das Licht der Debatte. Alle Äußerungen dazu werden in Warschauer Regierungskreisen protokolliert. Zwar gibt es offiziell seit 2010 keinen Gegenwind mehr aus Warschau für ein „Zentrum gegen Vertreibung“ in Berlin, aber das heißt ja nicht, dass man dessen Entstehung interesselos zusieht. Die Interpretation des „Falles Hauptmann“ ist in Polen auch heute alles andere als Privatangelegenheit. Das macht das Filmprojekt langanhaltend kompliziert. Den Umgang mit der Wahrheit auch.
Gerhart Hauptmann erlebte das Kriegsende im schlesischen Agnetendorf, das als Jagniątków etwa zwanzig Kilometer vom legendären Riesengebirgsort Karpacz (einst Krummhübel) entfernt liegt. Am Rande von Agnetendorf hatte Hauptmann sein „Haus Wiesenstein“ errichtet, und das wurde ihm mit fortschreitendem Alter Mittelpunkt der Welt. Es bedurfte großer Überredungskunst engster Lebensgefährten, Hauptmann im Februar 1945 zur Flucht vor der Front zu überreden. Von Dresden- Loschwitz – also buchstäblich vom „Turm“ aus – sah er die Zerstörung der Stadt. Der Schock, den diese Bilder auslösten, saß so tief, dass er umgehend und unter widrigsten Umständen nach Agnetendorf zurückkehrte. Dort verschanzte sich Hauptmann in seinem Haus vor dem Kriegsende. Für alles, was dann geschah, gibt es einen literarischen Zeitzeugen und ein literarisches Protokoll. Sein Autor: Gerhart Pohl. Unter dem Titel „Bin ich noch in meinem Haus“ veröffentlichte Pohl 1953 seine Begegnungen mit dem greisen Hauptmann.
Mit diesem Buch, das in der Volksrepublik Polen nie erscheinen durfte, gibt es einen detaillierten Beleg über die letzten Lebensmonate Hauptmanns und über die Spannungen zwischen Moskau und Warschau. Aber eigentlich geht es um die besondere Rolle der Roten Armee in Niederschlesien. Anders als in der sowjetischen Besatzungszone wird „der Russe“ dort als Beschützer vor polnischer Willkür in den ersten Nachkriegsmonaten erlebt. Hochrangige sowjetische Offiziere verhindern, dass die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat anläuft und dafür verabredete Grundsätze missachtet werden. In diesem Konflikt wird die Existenz Gerhart Hauptmanns zum entscheidenden Spielball. Gerhart Pohl, der unter Hitler lange Zeit mit Schreibverbot belegt war und für seine aktive Fluchthilfe für Juden aus Deutschland in Israel noch heute hoch geschätzt ist, hat die Situation genau erfasst. Hauptmanns Weigerung, seine Heimat zu verlassen, wurde zu einem Symbol für die moralische Fragwürdigkeit des Vorgangs. Die Westverschiebung Polens war infrage gestellt. Und zwar mit Billigung aus Moskau. Das legt viele Vermutungen nahe. Auch die, dass polnische Politik bis heute Moskau nicht nachsehen kann, nicht zu den Siegerverhandlungen im Sommer 1945 in Potsdam zugelassen gewesen zu sein. Polen sah sich als eine Macht, der dieser Anspruch zustand. Zu groß war der Anteil polnischer Soldaten in der Roten Armee. 170 000 Polen nahmen an der Schlacht um Berlin teil. Fast 400.000 Männer und Frauen kämpften in der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee, im Untergrund. Polen hat sich zu einem sehr erheblichen Teil selbst von den deutschen Truppen befreit. Noch immer ist nicht ganz geklärt, ob die polnische Fahne als Zeichen des Sieges 1945 über dem Brandenburger Tor eher wehte als die sowjetische Fahne über dem Reichstag in Berlin. Aber was steht davon in den russischen Geschichtsbüchern? Und was in deutschen?
Diese Narben brechen auf, wenn von dem Ende des Gerhart Hauptmann zu reden ist. Damit mühen sich polnische Filmemacher und bewegen sich auf einem Gelände, dass noch nicht von allen Minen geräumt ist. Schade ist, dass weder das deutsche Feuilleton noch das Fernsehen sich aus der peinlichen Situation befreien und über diese Wandlungen berichten. Vielleicht sollte man einfach einmal ein ganz klein wenig übertreiben und laut und deutlich ausrufen: Die deutsche Berichterstattung aus Polen ist einfach peinlich. Vor allem für die, die in Polen unterwegs sind.
Schlagwörter: Gerhart Hauptmann, Hans-Dieter Rutsch, Polen, Rote Armee, Schlesien, Westverschiebung