von Christoph Marischka
Am 4. Dezember beschloss zunächst der NATO-Rat und gleich am Tag darauf das Bundeskabinett die Entsendung von Patriot-Systemen und bis zu 400 Soldaten in die Türkei „zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO“. Der Bundestag debattierte bereits eine Woche später und kurz darauf erfolgte die Abstimmung. Inzwischen sind Patriot-Raketen und Soldaten auf dem Weg in die Türkei. Die Debattenbeiträge der SPD und der Grünen verwiesen jeweils darauf, dass „Fragen“ und „Bedingungen“, die von ihnen im Auswärtigen Ausschuss gestellt worden waren „befriedigend beantwortet“ worden seien. Konkret nannten sie folgende „Bedingungen“: Dass die Patriots „nicht direkt an der Grenze stehen“, „dass in das syrische Territorium nicht hineingewirkt werden darf“ und das „Kommando … bei der NATO sein“ muss. Das gab auch dem Verteidigungsminister Gelegenheit, Entgegenkommen zu suggerieren: „Dieser Ort [der Stationierung] wird sich nicht in unmittelbarer Nähe der türkisch-syrischen Grenze befinden … Die Wirkung bleibt auf türkisches Gebiet begrenzt, um das unmissverständlich zu sagen. Ich weiß, dass dies, wenn es darum geht, zuzustimmen, für viele ein wichtiger Punkt ist.“ Auch die Erfüllung der anderen Bedingungen versprach de Maizière. Mit den Debatten in den Ausschüssen hatte all das jedoch nichts zu tun. Bereits im Antragsentwurf der Bundesregierung, der am Tag nach dem Kabinettsbeschluss zirkulierte, wurde festgehalten, dass das Kommando der NATO unterstellt wird, die Patriot-Systeme „nicht der Einrichtung oder Überwachung einer Flugverbotszone über syrischem Territorium“ dienen und „nicht in den syrischen Luftraum hinein wirken“ sollen. Eine Verlegung direkt an die Grenze würde militärisch gar keinen Sinn machen, da der abzuwehrende Flugkörper und seine Flugbahn zunächst per Radar erfasst werden müssen und dann noch Zeit für die Entscheidung, den Abschuss und den Flug der Patriot-Raketen eingeplant werden muss.
Aber durch die Erfüllung der vermeintlichen „Bedingungen“ von SPD und Grünen war es ihren Rednern möglich, anzukündigen, dass sie ihrer Fraktion die Zustimmung empfehlen. Einzig Jan van Aken von der Linksfraktion stellte die Frage „warum eigentlich?“, die von den Wortnehmenden aller anderen Fraktionen einhellig mit „Bündnissolidarität“ und „Verlässlichkeit“, von de Maizière zusätzlich noch mit den „Sorgen“ der Menschen in der Türkei begründet wurde. Nouripour (Grüne) brachte die vorherrschende Argumentation auf den Punkt: „Wenn ein Partnerstaat um Beistand bittet, dann braucht man sehr gute Gründe, wenn man nicht Ja sagen will.“ Normal ist also der Einsatz, die Unterstützung, es bleibt nur noch, wie gut die Gründe eigentlich sein müssen, damit zumindest die Opposition diesen ablehnt (oder sich zumindest enthält). Denn gute – ja sehr gute Gründe – gibt es in diesem Falle genug.
Da wäre zunächst einmal, worauf van Aken hinwies und was auch Nouripour ansatzweise einräumte, dass eine Bedrohung der Türkei durch das Assad-Regime nicht existiert. Selbst de Maizière musste, nachdem er das Schreckgespenst mit chemischen Waffen bestückter syrischer Raketen an die Wand malte, zugeben, dass es „keine Anzeichen dafür [gibt], dass Syrien die Absicht haben könnte, diese Waffen einzusetzen“. Ein fehlender Grund für einen Einsatz könnte doch schon Grund genug sein, einem Einsatz nicht zuzustimmen. Ein geradezu zwingender Grund jedoch besteht darin, dass die Türkei längst Partei im syrischen Bürgerkrieg ist und sich deren Regierung vom Parlament bereits einen Einmarsch hat bewilligen lassen.
Paradoxer Weise bezieht sich der Antrag der Bundesregierung als „völkerrechtliche Grundlage“ des Einsatzes auf die Konsultationen des NATO-Rates nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages vom 26. Juni, die stattfanden, nachdem ein türkischer Militärjet in niedriger Höhe und hoher Geschwindigkeit in syrischen Luftraum eingedrungen und daraufhin abgeschossen worden war. Ob der Abschuss in syrischem oder internationalem Luftraum stattfand, ist bis heute ungeklärt und weder NATO noch Bundesregierung haben dazu bislang Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Bereits Monate zuvor hatte die Türkei zum Sturz des syrischen Präsidenten Assad aufgerufen und begonnen, der Freien Syrischen Armee und anderen bewaffneten Gruppen ein Rückzugsgebiet zur Verfügung zu stellen, ihre Bewaffnung und ein Hauptquartier mit Beteiligung zahlreicher NATO-Staaten auf türkischem Territorium zu dulden oder zu unterstützen. Diese Einmischung der türkischen Regierung in den syrischen Bürgerkrieg ist Teil einer türkischen Großmachtpolitik und der Auseinandersetzung um die Vormachtstellung in der Region. Die Verlegung von Flugabwehrsystemen und Soldaten in dieser Situation ist, selbst wenn sie nur auf den Schutz des türkischen Territoriums beschränkt ist, eine unmittelbare Unterstützung und Beteiligung an dieser offensiven und brandgefährlichen Großmachtpolitik.
Dasselbe gilt für die NATO. Noch am Tag des entsprechenden Beschlusses „zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO“ des NATO-Rats hatte US-Präsident Obama der syrischen Regierung mit einer Intervention gedroht, wie zuvor schon die anderen NATO-Partner Frankreich und Großbritannien, es wurden konkrete militärische Planungen für eine solche Intervention eingeräumt. Unmittelbar nach dem Beschluss des NATO-Rates soll deren Generalsekretär eine „aktivere Rolle“ der NATO in Syrien und zugleich bemerkenswerter Weise auch gegenüber dem Iran angemahnt haben. Der deutsche Außenminister soll darauf entschieden widersprochen haben, was die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen jedoch als „Scheindebatte“ charakterisierte: „Die Katze ist damit aus dem Sack: die NATO bereitet einen Angriff auf Syrien vor“.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zugeständnis, sondern eine Gefahr, dass die Bundeswehrsoldaten und die Luftabwehrraketen unter das NATO-Oberkommando gestellt werden, dem der Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa vorsteht. Die Argumentation der „Verlässlichkeit“, die bereits jetzt ohne jede konkrete Bedrohung ins Feld geführt wird, wird es sowohl der Bundesregierung als auch den jetzt zustimmenden „Oppositions-“Fraktionen unmöglich machen, im Falle einer Eskalation die Luftabwehrsysteme aus der Türkei und die Bundeswehrsoldaten aus den gemeinsamen Stäben abzuziehen. Wie leicht eine solche Eskalation heraufbeschworen werden kann, darauf wies in der Debatte nicht nur van Aken, sondern auch Nouripour hin, weil es „auf der anderen Seite der Grenze einen Haufen von Provokateuren gibt … Es sind in erster Linie nicht die Anhänger von Assad, die einen Nutzen davon hätten, die NATO in einen Konflikt hineinzuziehen, der mittlerweile dschihadistisch, der mittlerweile regional, konfessionell und ethnisiert ist.“
Ein weiterer gewichtiger Grund, der eine Ablehnung eigentlich zwingend gemacht hätte,war eine Meldung über die Teilnahme Westerwelles am Treffen der Gruppe der Freunde des syrischen Volkes in Marrakesch: „Die Gruppe hat heute in Marrakesch beschlossen, die Nationale Koalition der syrischen Revolution als die legitime Vertretung des syrischen Volkes anzuerkennen …“. Die dort versammelten Außenminister begrüßten ausdrücklich den Einsatz der NATO und die Patriot-Stationierung in der Türkei als einen Beitrag zur Reduzierung der Bedrohung der Türkei. Damit wurde das völkerrechtliche Koordinatensystem, in dem der Einsatz stattfinden soll, radikal verschoben. Es stellt sich nicht nur die Frage, wie der entsprechende Einsatz der Bundeswehr nicht als Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg, sondern als rein defensiver Akt gewertet werden kann und wie ein tieferes Hineingleiten überhaupt verhindert werden kann. De Maizière etwa sagte in der Debatte des Bundestages einleitend, dass „dieser Bürgerkrieg vielleicht schon bald in die Schlussphase übergeht, wofür es einige Anzeichen gibt“ und begründete die zunächst 14 Monate, die das Mandat umfassen soll, damit, dass man „auf der sicheren Seite“ sein wolle. Mit der „Schlussphase“ kann jedoch keinesfalls ein Frieden gemeint sein oder auch nur eine Entscheidungsschlacht, sondern ein bewaffneter Machtkampf zwischen mehr oder weniger irregulären Armeen. In gewisser Weise wurde diese Schlussphase nun durch die „Freunde Syriens“ eigeleitet, indem sie selbst die syrische Armee zu einer solchen informellen Armee degradiert haben. Damit stellt sich bereits jetzt die Frage, wer im Falle eines Bündnisfalls, der ja die angebliche „völkerrechtliche Grundlage“ des Einsatzes ist, überhaupt der Gegner sein könnte. Dieser Bündnisfall wurde bislang erst einmal ausgerufen und auch in diesem Falle nicht gegen einen staatlichen Gegner, sondern im Anschluss an die Anschläge vom 11. September 2001 als Grundlage des sogenannten Krieges gegen den Terror, den die NATO bis heute in Afghanistan und weltweit führt. Betrachtet man die fehlende Sorgfalt, mit der bislang von Seiten der NATO der tatsächliche Ursprung des Beschusses aus Syrien untersucht wurde, und das sich entfaltende Geflecht bewaffneter Gruppen in Syrien, ist davon auszugehen, dass sich ein Eingreifen der NATO nicht auf die Bekämpfung eines präzise umrissenen militärischen Gegners beschränken, sondern nur eine umfassende Einmischung in einen entgrenzten Bürgerkrieg vergleichbar dem Krieg gegen den Terror in Afghanistan bedeuten kann.
Die Türkei etwa kann wie viele interessierte Akteure einen solchen Kontext teilweise regulieren und nutzen, um ihren Krieg gegen kurdische Autonomiebestrebungen zu intensivieren, bei denen sie bereits jetzt mit djihadistischen Gruppen in Syrien kooperiert (weshalb auch „die Bevölkerung der Türkei“, anders als de Maizière uns glauben machen will, weniger wegen der Raketen aus Syrien als wegen der Stationierung weiterer NATO-Kräfte besorgt ist). In der Region des Nahen und Mittleren Ostens jedoch birgt das offene Eingreifen der NATO in einen solchen Bürgerkrieg die Gefahr einer weiteren Eskalation der Konflikte mit dem Iran und Russland. Erst bei einer solchen Zuspitzung würde die „Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO“ mit der Stationierung von Patriots und dem Ausbau (beziehungsweise der Aktivierung) gemeinsamer militärischer Lagezentren und Hauptquartiere, die in 14 Monaten sicher nicht aufgelöst werden, militärisch ihren vollen Sinn entfalten. Letztlich beschleunigt sie die Implementierung des NATO-Raketenschildes, indem sie das zugrundeliegende Konfliktszenario wahrscheinlicher macht – in der „gefährlichsten Region der Welt“.
* Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen dem Antrag der Bundesregierung (BT-Drucksache 17/11783) oder dem Stenografischen Bericht der 213. Sitzung des Deutschen Bundestages (Plenarprotokoll 17/213).
Weitere Informationen der Informationsstelle Militarisierung e.V. unter www.imi-online.de
Schlagwörter: Bundestag, Christoph Marischka, Patriot-Raekten, Syrien, Türkei