von Sem Pflaumenfeld
Eine Reise beginnt mit den ersten Schritt, sagt ein kluges Sprichwort. Das beginnt bereits mit dem Klingeln des Weckers in der Nacht. Denn da Berlin keinen eigenen internationalen Flughafen hat, muss ich meinen Weg in den Osten über andere Metropolen der Welt nehmen. Die Lufthansa flog vor Jahren wegen ihrer freundlichen Mithilfe an der deutschen Abschiebepraxis von der Liste möglicher Fluglinien, weswegen ich immer erst eine andere Hauptstadt besuchen muss, um nach Tokyo zu kommen.
Da ich mich auch diesmal nicht getraute mit meinem Gepäck den Land- oder Seeweg zu nehmen und mir einredete, nur der Forschung wegen nach Tokyo zu wollen, nahm ich wieder einmal die Route durch die Luft. Ich tue dies mittlerweile zähneknirschend, weil ich weder die langen Zwischenstopps auf den Flughäfen noch die Distanz vom Boden gut vertrage. Auch braucht dem pathetischen Sprichwort zufolge meine Seele einige Tage mehr, um mir an das Reiseziel zu folgen, so dass ich ausgebrannt unter starkem Jetlag leide. Aus ökologischen Gründen wäre eine Zugfahrt in Richtung Osten oder eine Schifffahrt nach Süden ebenso empfehlenswert. Dass diese nicht immer ungefährlich sind, könnte nun eingewandt werden. Der Gedanke dahinter mag auf den ersten Blick nach Sorgen um mein Wohlbefinden klingen, jedoch besagt er nur, dass ich mich als Frau eigentlich nirgendwo auf der Welt allein, also unbemannt, bewegen darf. Sollte mir wirklich etwas passieren, habe ich als Reisende selbst die Verantwortung zu tragen, wenn ich mich auf den Weg mache.
Also nehme ich den sichersten Weg und damit das Flugzeug. Das letzte Mal reiste ich über Moskau, und auch wenn ich die Fluglinie Aeroflot entgegen ihrem Ruf als angenehm im Bereich Platz und Unterhaltung empfand, war die Erlangung eines Transitvisums eine Farce, die Kafka alle Ehre gemacht hätte, und der Aufenthalt in Scheremetjewo trostlos. Im November 2010 wurde der internationale Flügel noch erbaut, so dass ich zwischen leeren Geschäften sieben Stunden festsaß. Zwei Jahre später reiste ich darum über London und durfte mir vier Stunden in der Vorweihnachtsstimmung die Geschäftsauslagen der großen Namen dieser Welt ansehen. Britisch Airways und Virgin Atlantic nehmen sich im Service nicht viel, auch wenn das Unterhaltungsprogramm bei letzterer auf dem Rückflug vorsintflutlich war. Ich bin so verwöhnt von Langstreckenreisen, dass ich es mittlerweile eine Unverschämtheit finde, wenn es nur ein dutzend Filme gibt, die alle zur gleichen Zeit anfangen. Ich möchte mir mein Programm zeitlich zusammenstellen dürfen, wenn ich auf dem Flug nicht schlafen kann. Währen die Billigfluglinien schon immer ein gewisses Klassenbewusstsein pflegten, indem jede Leistung von Sitzplatzwahl bis zu Verpflegung extra bezahlt werden müssen, versteckten die Langstreckenlinien diese Trennung geschickt in den Preisen. Virgin macht es nun ganz transparent, indem die Reisende am Flughafen Narita in Tokyo einen Platz mit mehr Beinfreiheit selbst in der Hartholzklasse mit umgerechnet 50 Euro bezahlen darf. Die Economy Class, wie sie so nett genannt wird, gibt es nun auch in zwei Ausführungen, damit nicht alle beieinander sitzen. Um den Prozess vor dem Abflug noch zu verlängern, werden solche Hochbuchungsmöglichkeiten direkt dorthin verlagert, wo die Menschen schon mit ihren schweren Taschen und blankliegenden Nerven vor dem Reiseantritt in langen Schlangen warten. Wenn dann noch das Buchungssystem zusammenstürzt, hat die Reisende mit ihrem Rucksack einen unvergesslichen Abschied aus Japan.
Ebenso wie das Ende prägt der Beginn den Eindruck einer Reise. Die Reisende, die Berlin über London nach Tokyo verlassen muss, sieht sich genötigt, die frühen Abflüge zu nehmen. Für einen Morgenmuffel und Langschläferin sind diese natürlich geradezu prädestiniert, einen guten Reisestart zu ermöglichen. In Heathrow angekommen, sind nur die multi-religiösen Gebetsräume Orte, an denen die Reisende vor den Geräuschen der Terminals entfliehen kann. Ich wäre beinahe im christlichen Abteil eingeschlafen. Jedoch mag es mir gestattet sein, meinen eigenen Weg zu übersinnlichen Mächten auf einem Flughafen zu finden. Den jüdischen Betenden störte ich mit meiner An- oder Abwesenheit wohl nicht.
Ich neige dazu, auf dem Weg von Narita nach Tokyo einzuschlafen. Da jedoch die gedösten Minuten nicht für die verpassten Stunden im Flugzeug reichen, bin ich den ersten Tag gerädert, die darauffolgenden zu den falschen Zeiten wach oder müde.
Zerzaust und zerknirscht mache ich selten einen guten ersten Eindruck als fremde Reisende. In die Sprache des Alltags komme ich mittlerweile schnell hinein, auch wenn ich in der Beziehungseinordnung mein Gegenüber zu hoch oder zu tief einsortiere. Mir fällt Japanisch als relationale Sprache in der ersten Zeit immer schwer, weil ich versuchen muss, mich selbst zu positionieren. Je zerknirschter ich bin, desto männlicher möchte ich klingen, da dies aus dem Munde einer Frau abweisend und unverschämt wirkt. Das hält Männer auf Distanz, wenn man sich an die ersten verwirrten Reaktionen gewöhnt hat. Es erfordert Mut und eine gewisse Ignoranz gegenüber Zeichen von Unmut in zwischenmenschlicher Kommunikation, die eigene geschlechtliche Position in einer Gesprächshierarchie zu verlassen. Schon, wie ich mich selbst bezeichne, welches Wort ich als Äquivalent für Ich benutze, zeichnet mich geschlechtlich aus. Männer haben noch die Möglichkeit, sich nach Alter und gesellschaftlicher Stellung selbst zu benennen. Ich traue mich das selten und gegenüber Frauen häufiger als gegenüber Männern. Denn Frauen nehmen dies entweder als Witz wahr oder steigen selbst in diese Sprachebene ein.
Ein Japanischstudium lehrt zwar, dass es Unterschiede gibt und wie diese strukturell aussehen können. Doch da es um die möglichst reibungslose Akkulturation geht, wird uns beigebracht, was wir nicht benutzen sollten. Was ein bewusster Bruch bedeuten würde und könnte, habe ich erst durch meine Reisen und durch meine Forschungen ansatzweise erleben dürfen. Auch dass wir nicht jede Fremdbezeichnung über uns ergehen lassen müssen, habe ich erst im direkten Kontakt gemerkt. Denn ein Du kann sehr gesellschaftlich herabsetzende Bedeutungen haben, ohne als Abwertung gemeint zu sein. Eine männliche Selbstbezeichnung ore mit der Fremdbezeichnung o-mae für die dazugehörige Freundin sagt sehr viel über die Geschlechterhierarchien in der Beziehung aus, ohne dass sich das Paar selbst nicht als modern sehen würde. Männer, die sich in meiner Gegenwart ganz betont männlich so bezeichnen, kann ich meist nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe ernst nehmen. Gerade unter jungen Männern ist diese versprachlichte Männlichkeitsbezeugung verbreitet und beliebt. Für Frauen dagegen gilt, dass wir gesellschaftlich sehr viel weniger sprachliche Mittel zur Verfügung haben, uns und andere zu bezeichnen.
Das bedeutet nicht, dass japanische Frauen nicht über sich reden. Im Gegenteil können sie das viel und auch laut. Männer sind in Gruppen in der Öffentlichkeit lauter zu vernehmen, aber gerade Schülerinnen sind wie an anderen Orten auf der Welt von weitem zu sehen und zu hören. Diese sind mir jedoch als Willkommensgruß allemal lieber als die Pärchen, die mir jedoch nach meiner Ankunft um die Mittagszeit statistisch häufiger begegnen. Nach den Männergruppen sind Pärchen die zweitunhöflichste Ansammlung, in Japan anderen im Weg zu stehen. Und auch nur diesen wird es nachgesehen, während ich mit meinem Rucksack versuche, in Japan anzukommen.
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