von Sem Pflaumenfeld, Tokyo
Ich könnte mein ganzes Leben in Cafés verbringen. Jetzt, da sich die Temperatur auch tagsüber langsam der Null nähert, bleiben Menschen wie ich gern bei einem heißen Getränk im Warmen und schauen auf die Straße. Das geht natürlich nur, wenn das Café ein Fenster in die Außenwelt hat und dieses nicht von einem der sehr nahen Häuser in der Nachbarschaft verstellt wird. Auch hier im Osten von Tokyo zieht die Weihnachtszeit ein, die sich meist in melancholischen Liedern des US-amerikanischen Jazz selbst Ausdruck verleiht. Einige von den Stücken sollen romantisch sein und eine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit vermitteln, aber je länger ich ihnen zuhöre, desto froher bin ich, dass ein tieferes Verständnis für das Amerikanische hier auch nicht so ausgeprägt ist. Ich halte mich selbst nicht mehr für romantisch, da Romantik zu bedeuten scheint, dass ich einer Person, die im realen Leben wohl nie mit mir etwas zu tun haben wollen würde, wie irre hinterhersinge und sie davon zu überzeugen versuche, mich doch zu nehmen. Warum müssen viele Liebeslieder klingen, als hätte sie ein Stalker geschrieben?
Ich sitze gern in den Cafés und lese von den Abenteuern anderer. Da ich nach Japan gekommen bin, um zu forschen, erlebe ich die Reisen durch die Worte meist japanischer Menschen. Lange traute ich mich nicht in das Café hier an der Hauptstraße von Wakamiya, weil ich in Ruhe gelassen werden wollte. Das Wetter und die Nähe, in der die Menschen hier leben, sind auf die Nerven gegangen und haben mich unleidlich gemacht. Wenn ich schon darüber nachdenke, den Paaren, die auf den engen Straßen mir überall im Weg herumzustehen scheinen, kräftig in die Hacken zu treten, dann geht etwas gehörig schief. Ich weiß dann, dass ich dieser gesellschaftlichen Bevorzugung von Zweisamkeit schnellstmöglich aus dem Weg gehen muss.
Am Sonnabend besuchte ich nun doch endlich jenes kleine Familiencafé in der Ladenstraße zum Bahnhof. Natürlich passierte auch das, was ich in meinen schlechten Zeiten nicht mag. Ich wurde auf meine Sprachkenntnisse, meine Herkunft und den Zweck meiner Reise angesprochen. Da ich mich langsam in meinem Weihnachtsgefühl wiederfinde, ließ ich mich auch gern auf das Gespräch ein. Es ist ein wunderbares Gefühl, auch einmal die Anerkennung für meine jahrelangen Bemühungen um mein Verständnis für All things Japanese zu erhalten. Wie ich bereits erzählte, ist diese eine zweischneidige Sache. Sie ist immer mit der unergründlichen Bewunderung verbunden, dass eine so augenscheinlich Fremde sich nicht nur für japanische Dinge interessiert, sondern sie auch noch zu verstehen scheint. Dabei ist das nicht sonderlich schwer, wenn ich mich für Dinge interessiere, entwickle ich nach einer Weile ein bestimmtes, wenn auch begrenztes Verständnis. Doch Leidenschaft ist etwas, dass in Japan wenig in Menschen zu brennen scheint. Es gibt die sogenannte Tätigkeit, „katsudô“ wird sie hier genannt. Sie umfasst von der politischen, die gerade jetzt zwei Wochen vor den Unterhauswahlen besonders im Fernsehen stattfindet, bis zum Erwerb eines heiratswilligen Partners alles, was mit einem geradezu heiligen Ernst betrieben wird. Jedoch werde ich manchmal das Gefühl nicht los, dass es sich dabei nicht um den Willen nach langfristigem Verständnis für irgendetwas handelt.
Eine liebe Freundin sagte auf dieser Reise zu mir einmal, dass in Japan nichts für die Ewigkeit erbaut wird. Das mag mit dem Buddhismus zusammenhängen, der im Groben die Vergänglichkeit und damit die Sinnlosigkeit, an etwas festzuhalten, lehrt. Das Angenehme ist die Abwesenheit alles Missionarischen, da nichts Bestand hat. Das Christentum hat erst in seiner katholischen Variante im 16. Jahrhundert, dann in der protestantischen im 19. seine lieben Schwierigkeiten damit gehabt. Das bedeutet nicht, dass japanische Glaubenssysteme ohne Hoffnung und Erlösung auskommen. Menschen brauchen auf Erden einen Sinn, an dem sie festhalten können. Auch ich brauche ihn hier. Jedoch muss es kaum einen Grund geben, warum die Göttin der Barmherzigkeit, Kannon, Menschen hilft, warum Amida Buddha Menschen ins reine Land nach ihrem Tod führt, warum Ahnen und Gottheiten Japan zu acht Myriaden bewohnen sollen. Der Gouverneur von Tokyo, Ishihara Shintaro, vertrat die Meinung, dass Japan das Erdbeben im letzten Jahr verdient hätte und näherte sich damit gefährlich den missionarischen Auslassungen evangelikaler Christen in den USA an. Der für seine rechtslastigen Ausfälle bekannte Ishihara (mittlerweile 80) trat nun zurück, um bei den Parlamentswahlen noch einmal landesweit Karriere zu machen. Und bei einer Wahlkampfzeit von unter einem Monat, mehreren neu gegründeten Parteien und handfesten wirtschaftlichen Ängsten hat der Mann eine reelle Chance, gewählt zu werden. Menschen mit Visionen wie die wenigen linken Parteien, die sozialdemokratische Partei, die KPJ, die neu gegründeten Grünen unter anderem, werden zwar für ihren Mut bewundert, aber ihre Vorstellungen sind ohne Konsequenz. Denn auch in Japan haben politische Visionen nicht wirklich Bestand.
Gerade auf diesem Gebiet sei Japan schwer zu verstehen, höre ich manchmal. Wenn ich jedoch wie viele Menschen hier außerhalb meines eigenen Lebens an wenig wirklich Interesse habe, mir der missionarische Drang fehlt, etwas wirklich ändern zu wollen, sind die Entwicklungen in diesem Land nicht mehr so mysteriös. Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles, was auch nur ansatzweise nach Visionen für eine Zukunft in einer globalen Gesellschaft aussehen könnte, von der US-amerikanischen Besatzungsmacht verboten worden. Das sollte vor allem dem imperialen Expansionismus gelten, jedoch war es für die USA ebenso praktisch, die kommunistischen Tendenzen gleich mit im Keim zu ersticken. Versuche, in Freihandelsverträge einzusteigen, sind die wirtschaftliche Antwort auf diese Visionslosigkeit. Es wird in Japan gemunkelt, dass es die Liberaldemokratische Partei mit der demokratischen als etwas unwillige Handlangerin auf einen wirtschaftlichen Krieg mit China ankommen lassen wird. Die Frage der Atomkraft betrifft nicht mehr nur Kraftwerke, sondern mittlerweile auch die Umschreibung der Friedensverfassung. Jemand wie Ishihara hat noch nie wirklich etwas gegen Atomwaffen gehabt.
Was mich zu meinen Verwicklungen um Leidenschaften und Visionen bringt: Ich wollte nie wieder als Lehrerin an privaten Sprachschulen arbeiten. Das liegt nicht daran, dass ich das Lehren nicht mag. Im Gegenteil bin ich immer gern Englischlehrerin gewesen, und in Japan kann ich damit mein Taschengeld aufbessern. Für eine Reisende, die ihrem engen Zimmer in die Cafés der Hauptstadt entflieht, ist das auch bitter nötig. Ich bin für jede Möglichkeit dankbar, mich vor Menschen mit meinem Wissen zu produzieren. Auch liebe ich das eigennützige Interesse an der Wissensvermehrung, das jeder Forschung zugrunde liegt. Und doch habe ich einmal die Entscheidung getroffen, mit meinem Wissen kein System zu unterstützen, das auf die Auslagerung von Lehre in private Institute setzt. Auch verliere ich schnell die Geduld mit Menschen, von denen ich das Gefühl habe, dass sie die Schönheit von grammatikalischen Strukturen nicht zu schätzen wissen, die nicht verstehen wollen, dass es nicht nur ein Wort für ganze Gedanken gibt, dass Kommunikation nicht aus vorgefertigten Sätzen besteht, die ich auswendig lernen kann. Wenn ich an meinem Gegenüber als Menschen, der aus einem Land kommt, in dem eines der vielen Englisch gesprochen wird, kein Interesse habe, brauche ich auch keinen Sprachunterricht. Doch dann sehe ich, dass ich diesen Unmut nicht nur in Japan verspüre. Ich wünsche mir dann, dass mir liebe Menschen in Deutschland verstehen würden, dass Japan nicht aus einer Sprache und einer Kultur besteht, sondern aus Menschen, die einen Alltag leben. Und dieses Land ist ein kapitalistisches im 21. Jahrhundert, unsere Sorgen hier wie dort unterscheiden sich nicht sonderlich, möglicherweise nur unser individueller Umgang mit Unverständnissen.
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