von Wolfgang Brauer
1806 begannen Jakob und Wilhelm Grimm auf Anregung von Clemens von Brentano, deutsche Märchen zu sammeln. Im Frühjahr 1812 besuchte sie in Kassel Brentanos Freund Achim von Arnim. Der meinte, die Sammlung müsse publiziert werden, und vermittelte den Kontakt zum Inhaber der Berliner Realschulbuchhandlung Georg Andreas Reimer. Reimer ließ sich auf das Wagnis ein. Er wolle, so schrieb er am 17. September 1812 an Wilhelm Grimm, Sorge dafür tragen, dass die Märchensammlung „vor Weihnachten allenthalben zu erhalten seyn kann. … Da das ganze Unternehmen nicht eben ein großes Risiko mit sich führt, so bin ich bereit, den zweiten Band erscheinen zu lassen auch ehe der Erfolg über den ersten bestimmt entschieden hat…“
Der erste Band der „Kinder- und Hausmärchen“ erschien am 20. Dezember 1812 – die Grimmsche Sammlung feierte also dieser Tage ihren 200. Geburtstag – in einer Auflage von 900 Exemplaren. Die floppte, ein Teil musste wieder eingestampft werden. Dennoch stand Georg Reimer zu seinem Wort. 1815 erschien der zweite Band. Dessen Märchen hatten nun schon eine mehr oder weniger tiefgreifende Literarisierung durch Wilhelm Grimm erfahren. Diese Eingriffe sicherten in den kommenden Ausgaben den Siegeszug der Grimmschen Märchen als dem wohl meist verbreiteten deutschen Buch überhaupt.
1820 erschien die erste Übersetzung, eine niederländische Ausgabe, bei G. A. Diederichs in Amsterdam.
In der zweiten Auflage der Reimerschen Edition von 1819 findet sich dann erstmals das berühmt gewordene Porträt der wichtigsten Gewährsfrau der Grimms, Dorothea Viehmann, angefertigt von Ludwig Emil Grimm. Ludwig Emil war der dritte, allerdings meist vergessene der „Brüder Grimm“.
Die Berliner Staatsbibliothek widmet dem Jubiläum der neben den Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ sicher bedeutendsten Märchensammlung der Menschheit derzeit eine bemerkenswerte Sonderausstellung. Die berühmten alten Ausgaben sind da zu sehen, ebenso diverse Erinnerungsstücke an Jakob und Wilhelm Grimm. Man kann ihre „Berliner Orte“ kennenlernen, aber das Wichtigste sind die Märchen. Wunderschöne Ausgaben aus vielen Ländern sind zu sehen. Und egal, wann man geboren wurde – ganz sicher kann ein jeder Besucher sein erstes Märchenbuch entdecken.
Unübersehbar sind die vielen Ausgaben aus dem Kinderbuchverlag Berlin. Damit wird die Schau auch zu einer Dokumentation über den hohen künstlerischen Stand der Buchillustration in der DDR: Es waren die besten Grafiker des Landes, die für die Kinder arbeiteten und Märchenbücher schufen, die noch heute bezaubern. Die erste Nachkriegsausgabe (in drei Bänden von 1952 bis 1954 erschienen) illustrierte Lea Grundig. Die Ausstellung zeigt die schönen Zeichnungen Josef Hegenbarths zu „Rapunzel“ und die aufregende, so gar nicht „kindgemäße“ Darstellung des „Teufels mit den drei goldenen Haaren“ in Gesellschaft der Ellermutter in einer ziemlich heruntergekommenen Höllenwohnung von Karl-Georg Hirsch. Inge Gürtzig und Gertrud Zucker sind ebenso vertreten wie Albrecht von Bodecker, Klaus Ensikat und viele andere – und zu den Büchern zahlreiche Originalblätter. Natürlich fehlt die singuläre Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ mit den Illustrationen von Werner Klemke nicht. Gezeigt wird ein wunderschönes Widmungsexemplar Klemkes an die Bibliothekarin Renate Gollmitz, eine stille Verbeugung vor den Bibliothekaren der Staatsbibliothek Berlin (Ost), die den Grundstock zu einer der wohl bedeutendsten Kinder- und Märchenbuchsammlungen in Deutschland legten.
Ebenso wenig fehlen die Arbeiten von Komponisten nicht: Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ (gezeigt wird das gruslige Kostüm der Hexe aus der Inszenierung der Deutschen Oper Berlin 2008), Leo Blechs „Aschenbrödel“-Oper (1905 uraufgeführt) und – sicher für viele eine Entdeckung – das „Aschenbrödel“-Ballett von Johann Strauß (Sohn). 1899 vom Komponisten als Fragment hinterlassen, erlebte es 1901 an der Königlichen Oper in Berlin seine Uraufführung. Das Libretto von Hermann H. Regel war fast hollywoodreif: Aschenbrödel ist Laufmädchen im Warenhaus „Vier Jahreszeiten“ …
Von dieser Ausstellung kann man sich zum Träumen verführen lasse. Zum Abschied winken Jutta Mirtschins zauberhafte Puppen für den „Gestiefelten Kater“, am Puppentheater Berlin 1981 uraufgeführt. Puppentheater Berlin, da war doch was? Aber das ist eine andere Geschichte.
P.S.: Kenner der französischen Literatur werden mich schon bei der Überschrift dieses Feuilletons banausenhaften Halbwissens gescholten haben. Natürlich ist Rotkäppchen – Le Petit Chaperon rouge – Französin und kam in Paris als Kind des literarischen Vaters Charles Perrault im Jahre 1697 zur Welt. Aber der ließ sein Chaperon rouge schnöderweise samt Großmutter vom Wolfe fressen, ließ den vorher gar noch schlimme Dinge dem armen Kinde antun – und kein Jäger kam, das Mägdelein zu retten. Bei den Grimms ging das besser aus. Und Rotkäppchen ist nicht die einzige Pariserin, die sich in Berlin niederließ und es sich hier wohl ergehen ließ …
„Rotkäppchen kommt aus Berlin!“ – noch bis zum 5. Januar 2013, Staatsbibliothek zu Berlin, Potsdamer Straße 33, 10785 Berlin; geöffnet ist Montag bis Samstag 11 bis 19 Uhr; Eintritt frei.
Schlagwörter: Gebrüder Grimm, Märchen, Rotkäppchen, Wolfgang Brauer