15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Schaurig-schön

von Alfons Markuske

Die Romantik ist in der Kunstgeschichte üblicherweise die relativ kurze Periode vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die für die Malerei in erster Linie mit dem Namen Caspar David Friedrich verbunden ist. Nimmt man Romantik jedoch als Geisteshaltung, dann lassen sich entsprechende Sujets in unterschiedlichen Künsten bis weit ins 20. Jahrhundert ausmachen. Ein solches Herangehen legten Kurator Felix Junge und Projektleiter Ingo Borges der aktuellen Exposition „Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“ im Frankfurter Städel Museum zugrunde. Die Fokussierung auf das Abgründige, Geheimnisvolle, Böse, eben das Schwarze in der Romantik sowie in ihren Fortsetzungen bis hin zu Symbolismus und Surrealismus führte dabei zu einer höchst fesselnden und zu einer in ihrer Art exzeptionellen Ausstellung – mindestens für Liebhaber des Schaurigen in der Bildenden wie in anderen Künsten. Um einen Bogen zur Literatur zu schlagen: Wer bei Edgar Allan Poe, Wilhelm Hauff oder Ambroce Bierce ein wohliges Grauen empfindet, der sollte sich die „Schwarze Romantik“ keinesfalls entgehen lassen.
Den Reigen von fast 200 Exponaten aus den Bereichen Malerei, Grafik und Plastik eröffnet ein Werk, das geradezu als Manifest des „Genres“ gelten könnte – „Der Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli (1741-1825). Zu nächtlicher Stunde hockt einer lasziv im Schlafe auf ihrer Bettstatt hingestreckten schönen Frau der Nachtmahr, der Alp, auf dem Bauch, ein unheimliches Fellwesen, ein wolliger Gnom, während durch die gebauschten Fenstervorhänge ein Pferdekopf hereinschaut, der nicht von dieser Welt ist – mit geblähten Nüstern und Augen groß und leuchtend wie Glühbirnen. Unübersehbar ist aber zugleich der erotische Unterton des Bildes, der für starke Verstörung und zugleich Faszination bei zeitgenössischen Betrachtern sorgte. Die Körperhaltung der Frau, die auf den ersten Blick wie eine Pose des Leides erscheint, könnte auf den zweiten auch eine der Lust sein.
Und gerade was die Kombination von schwarzer Romantik und Eros sowie Sexus, nicht nur, aber auch nicht zuletzt in Gestalt der Femme Fatale, anbetrifft, hält die Ausstellung mehr als einen Paukenschlag bereit. Da ist William Blakes (1757-1827) „Der große rote Drache und die Frau, mit der Sonne bekleidet“, der bekanntlich dem zweiten Band der Hannibal-Lecter-Tetralogie von Thomas Harris nicht nur den Namen gab, sondern darin auch eine zentrale Rolle spielt. Jean Delvilles (1867-1953) „Das Idol der Perversität“ scheint denjenigen Betrachter, der sich zu lange in das Bild versenkt, zu hypnotisieren und zum Spielball seiner sexuellen Phantasien zu machen. Auch Dalis (1904-1989) „Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Erwachen“ gehört unbedingt in diese Aufzählung. Und natürlich mein Favorit in dieser Ausstellung – Franz von Stucks (1863-1928) „Die Sünde“: Der weiße makellose Leib des Weibes verkörpert hier die fleischgewordene Verheißung von schrankenloser Wollust, während ein nicht minder aristokratisches Reptil, eine riesige Würgeschlange, diese Verheißung quasi einrahmt – das Verderben, das den erwartet, der dieser Sünde verfällt. Weib und Schlange fixieren den Betrachter in unübersehbarer Komplizenschaft, doch der ist schon verloren: Die lockenden Lippen des Weibes lassen ihn das lauernde, halb geöffnete Maul des Reptils ignorieren … Ob wohl Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky dieses schwüle Werk kannte, als er 1913 in der Schaubühne schrieb: „[…] der Frauenleib ist der Anstiftung dringend verdächtig […]“?
Zweieinhalb kritische Anmerkungen sind zu dieser schaurig-schönen Schau trotzdem zu machen. Deren erste beginnt mit einer Wertschätzung: Dass die Ausstellungsmacher Alfred Kubin (1877-1957) einen eigenen Ausstellungsbereich eingeräumt haben, ist aufgrund von dessen Sonderstellung zwischen Symbolismus und Surrealismus am Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als gerechtfertigt. Zu flach aber und insgesamt zu harmlos ist jedoch die gezeigte Auswahl aus Kubins Œuvre. Wer den Künstler nicht kennt – etwa von der umfassenden Werkschau „Alfred Kubin: Drawings, 1897-1909“, die 2008/2009 von der Neuen Galerie in New York veranstaltet worden ist –, der ahnt nach einem Besuch im Städel allenfalls etwas von jenem schwarz-romantischen Furor, der bei Kubin in seiner Intensität wohl einzigartig war. In der Ausstellung zeugen davon nur „Der Todessprung“ und „Seele eines Kindes“. Diese beiden Blätter ergänzt zu sehen etwa durch „Die Todesstunde“, „Das Schlachtfest“, „Der Kuss“ oder „Die Dame auf dem Pferd“, wäre der Frankfurter Ausstellung zu wünschen gewesen.
In eine ähnliche Richtung geht die zweite Anmerkung: Von Arnold Böcklin (1827-1901), einem der Hauptvertreter des Symbolismus in der Malerei, zeigt die Ausstellung zwar mit „Villa am Meer“ und anderen Werken durchaus Beeindruckendes, aber etwa eine seiner „Toteninseln“ und vor allem das Spätwerk des Künstlers, das in eine Exposition wie diese unbedingt gehört hätte, „Die Pest“, fehlen leider.
Und schließlich: Goya. Schwerpunkte seiner Präsentation im Städel sind Auswahlzusammenstellungen der „Caprichos“, der Kannibalen-Bilder und der „Desastres de la Guerra“. Hier ist der Bogen meines Erachtens insofern überspannt, als Goya bei diesen Arbeiten – insbesondere bei den aus den Gräueln der Napoleonischen Besetzung Spaniens und des dagegen geführten Guerilla-Krieges gespeisten „Desastres“ – Romantik weder als Geisteshaltung noch anderweitig zu unterstellen ist, auch nicht mit der Apostrophierung als „schwarz“. Goya war bei diesen Arbeiten in tiefster Seele erschütterter Realist, auch Naturalist. Das hätte in einem der zahlreichen und sehr informativen Begleittexte in der Ausstellung vielleicht deutlich gemacht werden sollen. Trotzdem – dies nur als halbe Kritik, denn wieder einmal eine so repräsentative Auswahl der betreffenden Werke Goyas überhaupt im Zusammenhang sehen zu können, ist natürlich ein Erlebnis ganz eigener Qualität!
Ihre massenwirksamste Ausprägung – auch diesem Aspekt widmet sich die Ausstellung – erhielt die „schwarze Romantik“ allerdings in einem ganz anderen Genre als dem der Malerei oder Literatur, nämlich im Film, konkret im schwarz-weißen Horrorfilm der 20er und 30er Jahre, insbesondere in solchen Stummfilm-Klassikern wie „Nosferatu – Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau oder frühen Tonfilmen wie „Frankenstein“ (1931) von James Whale. Ein Ausschnitt von letzterem läuft quasi auf der Rückfront von Füsslis „Nachtmahr“, und das nicht von ungefähr. Als die schöne Braut im Angesicht der missgestalteten Kreatur (Boris Karloff) um Hilfe schreit und diese flieht, bleibt die Frau zurück, hingestreckt auf ihrem Bett – in genau der Pose, wie sie Füssli 140 Jahre zuvor gemalt hatte. Und im Verlaufe der Ausstellung lernt der Betrachter, dass sich die Schöpfer des Films noch bei einem anderen Klassiker bedient hatten: Karloffs einprägsame kantige Schädelmaske wurde einem von Goyas „Caprichos“ entlehnt – dem Blatt Nummer 50, betitelt „Los Chincillas“.
Für einen Besuch bleibt auf den Audio-Guide gesondert hinzuweisen, nicht nur weil er mannigfaltige Zusatzinformationen bereit hält, sondern weil das sanfte Timbre von Hanna Schygulla besonders gut mit den Exponaten der Ausstellung harmoniert. Und die Idee der Ausstellungsmacher, außer dem üblichen teuren Gesamtkatalog auch den Audio-Guide in Gestalt eines Buches, das die besprochenen Objekte zeigt, mit Hör-CD – und dies zu einem sehr ansprechenden Preis – zu publizieren, sei ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen.

„Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“ – Städel Museum zu Frankfurt am Main, noch bis 20. Januar 2013; Dienstag, Freitag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch/Donnerstag 10 bis 21 Uhr, Montag geschlossen; Eintritt 12 bis 14 Euro, ermäßigt 10 bis 12 Euro; Katalog – 305 Seiten, 34,90 Euro; „Schwarze Romantik. Kunst zum Hören“ – 48 Seiten mit 30 Abbildungen, mit CD, 16,80 Euro.