15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Querbeet XVII

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: ein großes „Nu jaja, nu neenee“, eine sächsische Duftrose, ein letztes Gesumm.

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Er sehe aus „wie ein Tollhäusler“, bemerkte Frank Wedekind. „Mit seinem grotesken, etwas blöden Profil, mit rattenkahl geschorenem Schopf und schweren Wollkleidern.“ Da lästert ein Berühmter eifersüchtig über einen noch Berühmteren, nämlich den Kollegen Gerhart Hauptmann. Der war damals so um die fünfzig und lag mit Thomas Mann im Streit um die Pole-Position im Rennen um den Titel „Legitimer Erbe Goethes“. Da rief Herr Thomas Herrn Gerhart gönnerisch aus zum „König der Republik“, um ihn im „Zauberberg“ spitzbübisch als süffigen Mynheer Peeperkorn zu karikieren. Hauptmann reagierte wütend auf dieses verpeepte „idiotische Schwein“ – und hatte jetzt, Mitte November, seinen 150. Geburtstag.
Das Deutsche Theater Berlin (DT), Ort vieler Hauptmann-Uraufführungen, mit denen – teils über Skandale („Die Weber“; der Kaiser kündigte sein Abo!) – Theatergeschichte geschrieben wurde, das DT also feierte seinen Haus-Klassiker drei Tage lang unter dem nun ja rotzigen Motto „Nu jaja, nu neenee…“. Mit Lesungen, Film und Hauptmann-Forscher Peter Sprengel. Hochspannend (sonderlich für Leser mit DDR-Hintergrund) dessen Monographie „G.H. im Dritten Reich“. 1938 trompetete der großdeutsche Dichter: „Es stehen höhere deutsche Dinge auf dem Spiel“; da war G.H. für den Emigranten Thomas Mann nur noch „diese Attrappe“. Das Neueste aus der Sprengel-Schreibstube aber ist die repräsentative Hauptmann-Biografie „Bürgerlichkeit und großer Traum“.
Und natürlich feierte das DT-Repertoire sich selbst mit Michael Thalheimers beiden Regie-Sensationen „Die Weber“, „Die Ratten“. Vor Jahren liefen ästhetisch Furor und politisch Skandal machende „Weber“-Inszenierungen von Frank Castorf (Volksbühne Berlin: die Weber als dumpfe Hartz-IV-Truppe) und Volker Lösch (Schauspiel Dresden: die Weber als faschistoid motzende Meute von Wendeverlierern). In beiden Fällen machten die Erben Rabatz, wollten die Produktionen verhindern – vergeblich.
Der Schmäh vom „Tollhäusler“ steht übrigens nebst anderen Sotissen über den tollen Großschriftsteller an die Wand gepinselt im Hauptmann-Haus zu Erkner bei Berlin, wo Herr und Frau H. (in erster Ehe und sexuell wie literarisch schwer aktiv) lebten; deren Söhne Ivo, Eckart, Klaus wurden hier geboren. Es waren „grundlegende Jahre“, erinnert sich der Nobelpreisträger. „Mit der märkischen Landschaft aufs innigste verbunden, schrieb ich dort ‚Fasching‘, ‚Bahnwärter Thiel‘ und mein erstes Drama ‚Vor Sonnnenaufgang‘. Die vier Jahre sind sozusagen die vier Ecksteine für mein Werk geworden“ heißt es in einem Brief an die Gemeinde. Die betreibt im „Ecksteinhaus“ liebevoll ein sehr feines, frisch und geistreich hergerichtetes Literaturmuseum.

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Einar Schleef befand, „Die Weber“, das sei die erste deutsche antike Tragödie. Und wahrlich, immer steckt in Hauptmanns präzis gepinselten Figuren des Menschen ewige Physiognomie. Im Wirrwarr des Einzelnen dräut noch das blutig Schicksalhafte. Stücke wie „Die Weber“, „Der Biberpelz“, „Fuhrmann Henschel“, „Michael Kramer“, „Die Ratten“, alle entstanden um die vorvorletzte Jahrhundertwende und nebst dem 1932er Spätwerk „Vor Sonnenuntergang“ frisch auf dem Hör-Markt vereint in einem CD-Sixpack, all diese naturalistischen Dramen sind erregende Zeitstücke – nicht aber „abgeschriebene Wirklichkeit“, wie Thomas Mann lobend bemerkte. Sondern eben grandiose Kunstwerke mit lebensprallen Figuren und einer vehement zupackenden Sprache, deren Macht auf unseren Bühnen heute so leichtfertig gern gering geschätzt wird. In dieser neu erschienenen, historischen „Großen Hörspiel-Edition“ des Rundfunks, produziert zwischen 1950 und Anfang 1960 in verschiedenen westdeutschen Studios mit Stars wie Albert Bassermann, Hans Quest, Therese Giehse, Heinz Hilpert, da schwingt zuweilen ein hoher, deklamatorischer Ton mit. Manchem mag das nach staubigem Staatstheater klingen. Gelassenere Ohren aber mögen da eine subtile Art irritierender Verfremdung heraushören; eine besondere Würze dieser wuchtigen Dramatik aus dem goldenen Fonds des deutschen Theaters, das hier zum Welttheater wurde.

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Ganz Dräsden ist aus dem barocken Häuschen, denn der Diehlemann fängt an – mit dem „Rosenkavalier“. Wir reden von Christian Thielemann, dem neuen Chefdirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der nach diversen Antrittskonzerten nun erstmals im neuen Amt in der Semperoper am Pult sitzt. Dort saß auch Richard Strauss anno 1911 zur Uraufführung seiner Komödie für Musik, die ein Welthit wurde. Und quasi ein Dresdner Markenzeichen, das für Wehmut und Witz steht, verpackt in betörende Schönheit – also ins Juchzen und Schluchzen der Streicher. Jaja, die „lieben Dräsdner“ (Strauss) pochen mit eisernem Händchen aufs Schöne. (Und kehren mit eiserner Faust das Schlimme nur allzu gern untern barocken Teppich.)
„Der Rosenkavalier“ steht aber auch für einen Durchbruch realistischer Musiktheater-Regie (wie wir heute sagen würden), den die Autoren Strauss und Hugo von Hofmannsthal der königlichen Intendanz unter erpresserischem Druck abrangen, indem sie die Mitarbeit des Berliner Regisseurs Max Reinhardt durchsetzten. Der sorgte dafür, dass die Schwelgerei im selig Schönen nicht bitterböse Abgründe zuschüttete; dass Juchzen und Schluchzen in Balance blieben. Wie jetzt wieder. Jubel!

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Sie sind schön, fleißig, hoch organisiert und gelten nach Rindern und Schweinen als drittwichtigste Wirtschaftstiere. Doch ein kaputtes Immunsystem, Pestizide, Milben und genetische Depression sind dabei, unserer lieben braven Honigbiene den Garaus zu machen. In Teilen Chinas gibt es schon kein Gesumm mehr, da bestäuben Arbeitskolonnen in Handarbeit die Obstbäume – ein globales Verhängnis nimmt leise und unerbittlich seinen Lauf. Davon erzählt Markus Imhoof in seinem grandiosen Dokfilm „More Than Honey“. Und bringt mit spektakulären Innenansichten gefährdeter Bienenstaaten sozusagen eine Schicksalsfrage der Menschheit auf die Leinwand. Ein Film als stechendes Menetekel; schließlich warnte schon Einstein: Sterben die Bienen, sterben später die Menschen. Noch kauen wir Äpfel, Mandelkern, Rosinen – bis zum nächsten Querbeet im Advent.