von Götz Neuneck
Die erste Konferenz in dem kleinen beschaulichen kanadischen Fischerdorf Pugwash im Jahre 1957 war zugleich der Ausgangspunkt für eine spezielle Methode, die zum „Markenzeichen“ der Pugwash-Bewegung werden sollte, die so genannte Track-II-Diplomacy. Deren Kern besteht in der Durchführung von ein- bis zweitägigen Workshops zu spezifischen und aktuellen Themen, zu denen Wissenschaftler, Entscheidungsträger und Experten als Individuen und nicht als Repräsentanten von Staaten eingeladen werden. In vertraulicher Atmosphäre soll ein Dialog „mit der anderen Seite“ angeregt, sollen Konfliktthemen offen angesprochen und Wege aus den meist historisch langen und politisch verqueren Sackgassen gefunden werden. Die Themen sind stets unmittelbar mit der Nuklearwaffenfrage und mit technischen Entwicklungen verknüpft, auch wenn diese ihrerseits oft nur Symptom für politische Spannungen sind.
Während im Kalten Krieg die Nuklearthemen zwischen Ost und West dominierten, liegt der Pugwash-Schwerpunkt heute eher in Asien und im Mittleren Osten. Dort ist die Gefahr nuklearer Konfrontationen weitaus größer als derzeit in Europa. Das Nobel-Preiskomitee, das Pugwash und seinem Gründer Jo Rotblat 1995 den Friedensnobelpreis verlieh, gab in seiner Begründung der Hoffnung Ausdruck, dass Pugwash „die führenden Politiker der Welt ermutigen möge, ihre Anstrengungen zu verstärken, die Nuklearwaffen abzuschaffen“.
US-Präsident John F. Kennedy hatte am 25. September 1961 – ein Jahr vor der Kuba-Krise – vor den Vereinten Nationen gesagt: „Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit durch Zufall, Fehlkalkulation oder Wahnsinn zerschnitten werden kann.“ Während der Kennedy-Administration kam es zu ersten Treffen zwischen amerikanischen und sowjetischen Kernphysikern. Ausgehend von der Pugwash-Konferenz in Moskau 1960 entwickelten sich ab 1961 auch russisch-amerikanische Studiengruppen, die sich bis 1975 kontinuierlich trafen und später von der US-amerikanischen National Academy of Sciences weitergeführt wurden. Der Historiker David Holloway schreit dazu: „Pugwash öffnete einen neuen Kommunikationskanal zwischen Ost und West zu einer Zeit, als informelle oder halbformelle Kanäle fehlten. Diese Diskussionen waren für Regierungen nützlich, weil es ihnen möglich gemacht wurde, Ideen auszusetzen und Reaktionen zu testen, ohne formale Vorschläge zu machen.“ So entstand ein Wissenschaftler-Netzwerk, in dem – abgeschottet von hektischen Mediendebatten – oft wichtige Positionsänderungen, Alternativen und Langzeitlösungen diskutiert wurden.
Das so entstandene, informelle transnationale Netzwerk von Wissenschaftlern spielte eine wesentliche Rolle beim Zustandekommen des „Begrenzten Teststoppvertrages“ von 1963 und des „ABM-Vertrages“ von 1972. Die Etablierung inoffizieller Kontakte zwischen russischen und amerikanischen Gesprächsteilnehmern während der Kuba-Krise hatte eine konfliktmindernde Wirkung. Kontakte und Treffen zwischen amerikanischen Emissären wie Henry Kissinger nach einer Pugwash-Tagung in Paris 1967 und der vietnamesischen Führung während des Vietnam-Krieges wurden vermittelt. Auch im Bereich der biologischen und chemischen Waffen konnten die diesem Thema gewidmeten Workshops wichtige Impulse beim Zustandekommen und der Stärkung der B- und C-Waffenkonventionen leisten. Gegen Ende des Ost-Westkonfliktes fanden im Vorfeld der sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsvereinbarung zur Abschaffung der Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag, 1987) sowie des multilateralen „Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa“ (KSE, 1991) Studiengruppensitzungen mit Vertretern beider Blöcke statt, die halfen, gemeinsame Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die Soziologin M. Spencer fasste dies so zusammen: „Pugwash – und andere Wissenschaftler – spielten eine ausschlaggebende Rolle bei der Beeinflussung von politischen Führern der Supermächte, um den Kalten Krieg zu beenden.“
Die westdeutsche Pugwash-Gruppe wurde 1959 von Carl-Friedrich von Weizsäcker gegründet, und 1963 entstand die Pugwash-Gruppe der DDR. Immer wieder kam es hier auch zu deutsch-deutschen Begegnungen. Insbesondere die Frage der taktischen Nuklearwaffen in Zentraleuropa und die konventionelle Überrüstung, aber auch die Chemiewaffen-Problematik beschäftigte beide Gruppen. Bedeutende Teilnehmer waren unter anderem Egon Bahr und Wolf Graf von Baudissin aus der Bundesrepublik sowie Karlheinz Lohs und Jürgen Kuczynski aus der DDR.
Drei große Jahrestagungen der Pugwash-Bewegung fanden in Deutschland statt und zwar 1977 in München und zweimal in Berlin, 1992 und 2011. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle unterstrich 2011, dass die Reduktion der so genannten taktischen Nuklearwaffen in Verhandlungen mit Russland einbezogen werden müsse und dass „Global Zero“ das langfristige Ziel der Bundesregierung sei. Andererseits versteht sich die NATO-Allianz immer noch als „nukleare Allianz“ und hat etwa 200 taktische Nuklearwaffen in fünf europäischen Ländern, darunter Deutschland, stationiert, obwohl diese Waffen keinerlei militärischen Nutzen haben. Ein einseitiger Abzug ist überfällig.
Im August 2012 treffen sich in der Pugwash-Villa in Kanada erneut Experten und Aktivisten, diesmal auf Einladung der kanadischen Pugwash-Gruppe, um die Möglichkeiten für und die Widerstände gegen eine Welt ohne Nuklearwaffen zu diskutieren. Unter anderem ging es um das umstrittene iranische Nuklearprogramm. Mehr als zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges und 55 Jahre nach der ersten Konferenz in Pugwash sollte die atomare Gefahr eigentlich gebannt sein. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Wird fortgesetzt.
(Teil I dieses Beitrages erschien in Ausgabe 22/2012.)
Schlagwörter: Frieden, Götz Neuneck, Kernwaffen, Krieg, Pugwash, Russell-Einstein-Manifest