15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Jenseits von Afrika

von Frank-Rainer Schurich

In Zeiten von Kriegen bleibt von der Xenophilie (Fremdenfreundlichkeit) kaum etwas übrig, zumindest bei denen, die sich der jeweiligen herrschenden Kriegsideologie unterwerfen. Der Fremdenhass und die Angst vor Fremden (Xenophobie) steigen in das Unermessliche. Ist der Krieg dann zu Ende, bleiben in den Köpfen der Leute die Fronten oft verhärtet.
Ein Wolfgang A. Thomas-San-Galli hatte vor Jahrzehnten eine Beethoven-Biografie geschrieben, die er „Herrn Oberstleutnant a. D. KARL WYNEKEN … IN VEREHRUNG“ zueignete. Er nahm sich wie alle Biografen vor, Beethoven zu zeichnen, „wie er war; im Klang seiner Zeit, in seiner persönlichen Eigenart und ihn widerspiegelnd in seinen Werken“. Das scheint ihm völlig misslungen zu sein – Schmalz und Heldenpathos triefen aus allen Seiten.
Der Autor war offenbar freiwillig oder unfreiwillig im Ersten Weltkrieg gegen den Erzfeind Frankreich ins Feld gezogen. Seine Ehefrau geleitet uns mit einigen Worten zur sechsten bis achten Auflage des Werkes (Juni 1919, Badenweiler – „Geburtsort des Verfassers“): „Leider ist die Hand, die diese Worte mit so viel Hoffnung und Arbeitsfreude niederschrieb, erstarrt: eine französische Kugel hat dem Leben meines lieben Mannes im Juni 1918 ein jähes Ende bereitet …“ Und so weiter, und so weiter. Deutschland hatte Frankreich überfallen, und eine französische Kugel hatte nun bedauerlicherweise den Angreifer niedergestreckt. War es nicht in Wahrheit eine deutsche Kugel?
Herbert Grunow ist ein guter, altruistischer Freund. Sein Großvater hatte kein Buch über Beethoven geschrieben, musste aber dennoch für Deutschland und den deutschen Kaiser in den Krieg ziehen. In der prächtig restaurierten Dorfkirche von Groß Lindow (Landkreis Oder-Spree) sind auf einer großen Tafel die Opfer des Krieges verzeichnet, auch: Wilhelm Grunow, gestorben am 9. Dezember 1918 im I. Lazarett in Bukarest. Er hatte nichts gegen Fremde und hätte so gern noch gelebt. Und er hat es sogar auf sich genommen, in der Fremde ganz jämmerlich zu verrecken.
Wie auch heute jeden Tag bewiesen wird, ist der Krieg als Inkarnation des Fremdenhasses ein guter Arbeitgeber, der mitten im „Frieden“ Hunderttausende Deutsche ernährt. Nicht nur in der „Verteidigungspolitik“, in der Armee und in der Rüstungsindustrie, sondern auch bei Lieferanten, Helfershelfern, Kriegspropagandisten und Geheimdiensten. „Der Kontinent war friedlicher während des Kalten Krieges“, sagte der Autor und Regisseur Tariq Ali kürzlich in einem Interview für die Zeitung Neues Deutschland. „Die deutsche Luftwaffe half Jugoslawien zu bombardieren, mit Hilfe der Grünen. Die ‚Wehrmacht‘ steht in Afghanistan. Die britische Armee ist überall.“ Diese Fakten haben ein ahnungsloses Komitee nicht daran gehindert, der EU den „Friedensnobelpreis“ zuzuerkennen.
In der Geschichte wird von Feldchirurgen berichtet, die den Krieg nicht mochten, aber von ihm lebten. Der Arbeitsplatz war sicher, wenn viel, viel Blut auf den Schlachtfeldern floss. Christian Ludwig Mursinna (1744-1823) ist so ein Feldchirurg, den der Frieden den Job kostete. 1763 war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, Preußen war als Großmacht etabliert, und Friedrich II. hatte sein Ziele erreicht. Mursinna wurde entlassen und saß auf der Straße. „Ich erhielt meinen Abschied und irrte in dem prächtigen Berlin umher, ohne zu wissen, wovon ich leben sollte.“ Aber er wurde wenigstens kein Fremdenhasser und hat keine Berlin-Besucher oder „Ausländer“ in der Rathausstraße, zu seinen Zeiten Königstraße, verprügelt oder totgeschlagen.
Jack Kerouac, eine herausragende Figur der so genannten beat generation, hat in seinem unverfilmbaren und genialen Buch „On the road“ (1957), deutsch „Unterwegs“, von Walter Salles 2012 dennoch verfilmt, das ewige Thema vom Eigenen und vom Fremden in wenigen Sentenzen erschöpfend behandelt. Da will Kerouac als Ich-Erzähler Sal Paradise plötzlich ein Mexikaner sein beim Anblick dieser fröhlichen Menschen; er ist aber nur ein desillusionierter „weißer Mann“. Und der gleichaltrige, lebenshungrige und charismatische Dean Moriarty (eigentlich Neil Cassady, der Inspirator der beat generation) sagt über seine kleine Tochter: „Ich habe eben ausgerechnet, sie ist einunddreißigeinviertel Prozent englisch, siebenundzwanzigeinhalb Prozent irisch, fünfundzwanzig Prozent deutsch, achtdreiviertel Prozent holländisch, siebeneinhalb Prozent schottisch, einhundert Prozent wundervoll.“
Das könnte in Annäherung an ein Gedicht von Ingeborg Bachmann viel bedeuten, dass wir sprechen und uns verstehen, und dass wir jeden „Augenblick des andern Hand erreichen“ müssen. Denn wir alle kommen ungefragt, stammesgeschichtlich gesehen, aus Afrika und haben gemeinsame Wurzeln. Das Menschsein wird immer unteilbar bleiben.
„Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen“, hat der britische Mathematiker, Philosoph und Schriftsteller Bertrand Russell gesagt. Sich stets zu unseren Ausgangspunkten bekennen, zum Eigenen und Fremden in uns, wäre eine Antwort, wenn es auch jenseits von Afrika mit der Zukunft weitergehen soll. Nach Goethe sollen all die wundervollen Kinder immer zwei Dinge von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel – die sie auch zu ihren Ursprüngen heimkehren lassen.