von Lutz Pohle, Beijing
„Dao“ und „De“, „Yin“ und „Yang“, hell und dunkel, Mann und Frau, schwarz und weiss, Himmel und Erde, Wasser und Feuer – zentrale Begriffe des klassischen chinesischen Denkens – gehören zusammen. Für den grossen Meister Laozi, Begründer der chinesischen Denkschule des Daoismus, ergänzen sie sich, sind miteinander in Harmonie zu bringen. „Ohne das „Dao“, den (himmlischen) Weg, gibt es kein „De“, die (himmlische) Tugend und umgekehrt“, erklärt ein chinesischer Umweltaktivist in Beijing (Peking). Und wenn die Harmonie, der Einklang des Menschen mit der Natur gestört ist, gibt es keine harmonische Gesellschaft. Die Natur als Grundlage und Quell des Lebens ist für die alten chinesischen Philosophen ebenso ein Axiom des Denkens wie für heutige Umweltschützer in China. Erst wenn Mensch und Natur im Einklang leben, sind Harmonie im Staat und vernünftiges Regieren denk- und realisierbar. Herrscher, die diesen Grundsatz nicht berücksichtigen, sind es nicht wert, das Volk zu regieren – darüber waren sich die alten chinesischen Philosophen von Konfuzius bis Menzius oder Laozi grundsätzlich einig, auch wenn sie in vielen anderen Fragen Unterschiedliches lehrten. Die Chinesen und mithin auch jede Führung des Landes, mögen sie auch noch so lange im Ausland studiert haben, sind in den tief verwurzelten Denktraditionen der alten Meister aufgewachsen und eingebunden.
Die Frage drängt sich auf, ob das wohl die Partei bewogen hat, den Umweltschutz und die Ökologie auf ihrem gerade beendeten Kongress in Beijing in ihr Parteistatut aufzunehmen. Wichtig sei doch, lautet heute in China zumeist die Antwort, dass den Worten auch Taten folgen. Gehört hätte man das alles in den letzten Jahren bereits häufig und es stünde auch in so manchem Dokument. Immer mehr Bürger in China erkennen allerdings, dass das ungezügelte Streben nach Wachstum immer weniger nachhaltig ist. Und die Erkenntnis wächst, dass die jahrzehntelange atemberaubende Entwicklung im Lande auf Kosten der Natur und der Umwelt erfolgte. „Es darf nicht länger hingenommen werden, dass China als Werkbank der Welt seine Umwelt ruiniert“, fasst Prof. Huang Haifeng vom Umweltverband „Ecological Development Union International“ (EDUI) die Stimmung zusammen. Auf einer Tagung, die sich mit der „gemeinsamen, zugleich differenzierten Verantwortung“ (Common but differentiated responsibility) von entwickelten und Entwicklungsländern für Umwelt, Ökologie und Nachhaltigkeit befasst, sassen letzte Woche in China erstmals Wissenschaftler und Vertreter von Umweltverbänden zusammen. Eher zufällig findet diese Tagung kurz nach dem XVIII Parteitag der KP Chinas in Beijing statt. Im Bericht an den Parteitag und in den Beschlüssen wurden Umweltschutz und ökologische Entwicklung erstmals in den Rang einer offiziellen Parteidoktrin erhoben, der Schutz der Natur und ökologische Entwicklung wurden im Parteistatut verankert. Wird die Partei, die sich selbst kommunistisch nennt und immer noch stolz die rote Fahne voran trägt, nun „grün-rot“?
Ein Beispiel ist die Luftqualität in Beijing. Angesichts des verbreiteten Misstrauens gegen offizielle Statistiken in China sind die verlässlichsten Angaben die inoffiziell im Internet veröffentlichten Messungen von unbekannten Umweltaktivisten, die irgendwo in der Stadt vorgenommen werden. Dieser als „Beijing 2.5 ppm“ bekannte und von der amerikanischen Botschaft in China unterstützte Air Quality Index endet bei 500 als Obergrenze. Am 22. November 2012 um 10:00 Uhr zeigt er 276 ppm. „Very unhealthy“ steht darunter. Damit die Luft nach diesem Standard als „gut“ eingeschätzt werden kann, muss der Index unter 50 ppm liegen, alles was über 100 ist, ist irgendwie ungesund. Mindestens viermal zeigten die Messungen in diesem Jahr bereits über 400 ppm an. Die offizielle Statistik der Beijinger Stadtregierung dagegen zählte bis vor kurzem die sogenannten „Blue Sky-Days“, die Tage an denen sich über der Stadt mit ihren 20 Millionen Einwohnern blauer Himmel zeigt. Es sollen im letzten Jahr über 200 Tage gewesen sein. Die offensichtliche Unvereinbarkeit der von den Bürgern wahrgenommenen Wirklichkeit und der offiziellen Interpretation führte in diesem Jahr zum Umdenken. Zweifellos auch getrieben von der Macht des Internet hat das Beijinger Umweltamt beschlossen, Messungen der Luftqualität in der Stadt auf den 2.5 ppm-Standard umzustellen und die Ergebnisse zu veröffentlichen.
Der chinesische Umweltprofessor Yu Xiaogang lebt in Kunming, der Hauptstadt der Südwest-Provinz Yunnan, die mit ihren schneebedeckten Bergen, grünen Tälern, reissenden Flüssen, dichten Wäldern und saftigen Wiesen ein bisschen an die Schweiz erinnert. Yu tritt in seiner Heimat seit fast zehn Jahren für den Umweltschutz ein. Er gehört damit zu den Pionieren einer Bürgerbewegung in China, die in den letzten Jahren stark gewachsen ist. Er hat es beispielsweise geschafft, inmitten der stetig wachsenden Welle von nationalen Touristen aus ganz China, die nach Yunnan schwappt, den Fischern mehrerer Dörfer in der Nähe der Touristen-Hochburg Lijiang das Überleben zu sichern. Beinahe wäre denen im wahrstenSinne des Wortes das Wasser abgegraben worden. Die Stadt Lijiang wollte wegen der vielen Besucher, Hotels und Restaurants das Wasser eines nahe gelegenen Bergsees anzapfen, um den stetig steigenden Trinkwasserbedarf der Stadt zu decken. Mit einer Mischung aus Umweltbildung für die lokalen Behörden und die Fischer und Aktionen für eine gerechte Verteilung der Ressourcen konnte ein Ausgleich erreicht werden, mit dem (bislang) alle leben können. Der national und international bekannte Wissenschaftler hatte in den neunziger Jahren die Regierung bei grossen Wasserbauprojekten in Südwest-China beraten und sich dabei in seinen Gutachten bereits mit den lokalen Behörden angelegt. Als Anfang des Jahrtausends sein Förderer und Beschützer in der Zentralregierung in Beijing sein Amt an seine Nachfolger abgegeben hatte, musste Prof. Yu seine Stelle an der Akademie aufgeben. Er hat eine eigene Umweltorganisation gegründet und tritt mit viel Einsatz und Initiative für eine ausbalancierte Entwicklung von Ökonomie und Ökologie ein. Künftige Wasserbauprojekte in China, speziell die im laufenden 5-Jahr-Plan vorgesehenen grossen Staudämme in seiner Heimatregion im Südwesten dürften nicht allein nach Wirtschaftlichkeit und Gewinn beurteilt werden, sagt Prof. Yu. „Wir müssen sowohl die Umweltfolgen als auch alle sozialen Risiken, die mit solchen Projekten verbunden sind, in die Beurteilung mit einbeziehen. Dafür trete ich ein.“
Vieles von dem, was Prof. Yu seit Jahren fordert, findet sich jetzt auch in den Reden und Dokumenten des Parteitages in Beijing. Noch-Präsident und Ex-Parteichef Hu Jintao forderte ein komplett „neues Entwicklungsmodell“ für China. Kernpunkt dieses neuen Modells müsse eine „nachhaltige und ökologische Entwicklung“ sein. Yu und viele seiner Kollegen sehen das eher skeptisch. China muss in den nächsten Jahren mit deutlich weniger Wachstum zurecht kommen und zugleich ökologischer und sozialer wirtschaften. Die atemberaubende wirtschaftliche Entwicklung Chinas hat gigantische Umweltschäden zur Folge und ist mit einem ständig steigenden Verbrauch an Ressourcen erreicht worden. Gleichzeitig hat sich die Schere zwischen arm und reich enorm vergrössert und die sozialen Gegensätze drohen das Land auseinander zu reissen. Die zunehmende Polarisierung im Land war zuletzt durch heftige Auseinandersetzungen um den Bau eines neuen Chemiewerkes in der Stadt Ningbo auch international bekannt geworden. Dort sind tausende Bürger auf die Strasse gegangen, weil sie befürchteten, dass der grösste chinesische Ölkonzern in der Nähe der Stadt eine neue Chemiefabrik bauen will und die Sicherheit nicht gewährleistet ist. Die Regionalregierung hat kurz vor dem Parteitag den Protesten nachgegeben und den Bau der Anlage erst einmal gestoppt.
Die Zahl der sogenannten „Zwischenfälle mit Massencharakter“ im ganzen Land hat bedrohlich zugenommen. Was da beschönigend umschrieben wird, sind lokal begrenzte soziale und andere Bürger-Proteste, die sich häufig an eher geringfügigen Anlässen entzünden: an Streitigkeiten um falsch geparkte Autos ebenso wie am Ärger über Willkür und Schikanen von lokalen Behörden oder Übergriffen von Sicherheitskräften. Immer häufiger kommt es aber auch zu Auseinandersetzungen wegen zu geringer oder nicht gezahlter Löhne, Streit um Entschädigungen für abgerissene Häuser oder Landnahme für Bauprojekte oder eben auch aufgrund von ignorantem, verantwortungslosen oder nachlässigem Umgang mit der Natur und Umwelt. Es wird an der neuen Führungsgeneration von KP und Regierung sein, diese Probleme anzupacken und zu lösen.
Einstweilen sieht es eher nicht danach aus. Schon wabern wieder Gerüchte durch das chinesische Internet, die die wirtschaftlichen Positionen und Verbindungen des neuen Parteichefs Xi Jinping und seiner Familie auflisten. Der Spiegel nannte vor kurzem die Kaste der neuen Reichen und Superreichen in China „ferrarirote“ Kommunisten. Nirgendwo auf der Welt sind mittlerweile auf den Strassen so viele und teure Luxusautos zu besichtigen wie in manchen Gegenden Chinas. Die internationalen Hersteller von Luxusmarken – von Uhren über Handtaschen, Bekleidung bis zu Autos und Luxusimmobilien – machen glänzende Geschäfte mit den neuen Reichen in China. Chinesische Touristen haben inzwischen die Japaner als grösste und auffälligste Gruppe von Reisenden in Europa und Amerika abgelöst. Auffallend häufig gehören zu Wirtschaftsdelegationen, die angeblich zum Studium oder zu Verhandlungen ins Ausland reisen, Regierungs- und Parteivertreter. Politik und Geschäft sind auch in China eng miteinander verquickt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass an lukrative Aufträge nur kommt, wer mit bestimmten Offiziellen oder mit deren Verwandten und Freunden gute Beziehungen pflegt. „Guan Xi“ heisst der chinesische Ausdruck dafür und jeder der in China zu etwas kommen will, kennt es. Es ist diese unheilvolle Verbindung von politischen und wirtschaftlichen Interessen, die es so schwer macht, die allgegenwärtige Korruption und Verschwendung und auch die Zerstörung der Umwelt effektiv zu bekämpfen. Der Chef einer Lokalregierung wird kaum etwas gegen eine Fabrik unternehmen, die die Umwelt verpestet, wenn er selbst oder seine Verwandten daran beteiligt sind. Selbst wenn er nicht beteiligt ist, wird er an den Wachstumszahlen und Steuereinnahmen gemessen, die er für sein Gebiet präsentieren kann und seine Karriere hängt davon ab, welche wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte er vorzeigen kann. „Grün-Rot“ statt „ferrarirot“ – ein neues Entwicklungsmodell, wie von Hu Jintao gefordert, müsste dort ansetzen.
Schlagwörter: China, Hu Jintao, Korruption, KP Chinas, Lutz Pohle, Umweltverschmutzung, Xi Jinping