von Edgar Benkwitz
In diesen Tagen wird die indische Öffentlichkeit daran erinnert, dass sich vor 50 Jahren ihr Land mit China im Kriegszustand befand. Nach schweren Zwischenfällen an der gemeinsamen Grenze begannen chinesische Truppen am 20.10.1962, umstrittenes Territorium im Nordwesten und Nordosten Indiens zu besetzen. Indien hatte dem militärisch wenig entgegenzusetzen und erlitt demütigende Niederlagen. Der vierwöchige Grenzkrieg forderte etwa 2.000 Menschenleben. Die noch aus der Kolonialzeit herrührenden Probleme vergifteten das Klima zwischen beiden Staaten auf Jahrzehnte.
Heute stehen sich zwei selbstbewusste grosse Staaten gegenüber, die einen spürbaren Einfluss auf Weltwirtschaft und internationale Beziehungen ausüben. Ihre zwischenstaatlichen Beziehungen haben sich weitgehend normalisiert, sie bedürfen aber eines weiteren Schubes, um endgültig die Probleme aus der Vergangenheit auszuräumen und das grosse Potential der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit nutzbar zu machen. Auch die Herausforderungen auf internationalem Gebiet erfordern das. Insbesondere die neue Asien-Pazifik-Doktrin der USA mit der Stationierung des Grossteils der US-Flotte im asiatisch-pazifischen Raum und der Festigung bestehender Militärbündnisse sind den beiden aufstrebenden Staaten ein Dorn im Auge. China mit seinem Ideal einer multipolaren Welt stemmt sich dem entgegen. Aber auch Indien steht einer Dominanz der USA im Indischen Ozean und den angrenzenden Seegebieten skeptisch gegenüber. Diese Interessenlagen erleichtern es, eine engere Zusammenarbeit auszuloten.
Dabei gab es schon einmal ein beispielgebendes Zusammengehen beider Staaten, das sogar einen neuen Typus der internationalen Beziehungen hervorgebracht hatte. Im Grenzvertrag zwischen Indien und China von 1954 wurden erstmals die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz (Panchshila) formuliert. Diese sollten nicht nur bilateral gelten, sondern zugleich Grundlage für die internationalen Beziehungen überhaupt sein. Während diese Prinzipien international immer bedeutender wurden, hielten sie zwischen Indien und China nicht einmal fünf Jahre. Streitpunkt war die gemeinsame Grenze, 3.500 km lang und noch in der Kolonialzeit festgelegt. Obwohl gegenseitig anerkannt, war sie nicht nach völkerrechtlichen Kriterien abgesichert. Nach dem Grenzkrieg 1962 hält China bis heute das umstrittene Aksai Chin im Karakorum-Gebiet besetzt. Hier verlaufen die einzigen direkten Verbindungen zwischen seinen Westprovinzen und Tibet, aber auch zu Pakistan und weiter nach Afghanistan. Bis zu Beginn der 60er Jahre hatte China vorgeschlagen, das für sein Land wichtige Aksai Chin für immer China zu belassen, dafür wollte es auf alle Ansprüche im Nordosten Indiens verzichten. Indien ging auf diese pragmatischen Vorschläge nicht ein. So dominierte dann statt friedlicher Regelung militärische Gewalt.
Während es in den indisch-chinesischen Beziehungen für lange Zeit zum Stillstand kam, baute China seine Zusammenarbeit mit Pakistan, dem Erzfeind Indiens, aus. Bereits 1963 wurde ein Militärbündnis abgeschlossen, später unterstützte China Pakistan bei der Entwicklung der Raketen- und Atomtechnologie. China wollte damit ein Gegengewicht zu Indien aufbauen, ohne sich selbst direkt in Szene zu setzen. Das zeigten die Kriege Pakistans mit Indien 1965 und 1971. China drohte zwar mit erneutem militärischen Einmarsch und stellte Ultimaten; zur Enttäuschung Pakistans blieb es aber nur bei verbaler Unterstützung. Ganz offensichtlich sollten erneute militärische Auseinandersetzungen mit Indien vermieden werden. Auch die Niederlassung des Dalai Lama in Indien nach seiner Flucht 1959 aus Tibet hat nie zu ernsthaften Konsequenzen seitens Chinas geführt. Allerdings erkannte Indien schon immer die Hoheit Chinas über Tibet an und gestattete auch nicht die Etablierung einer tibetanischen Exilregierung auf indischem Boden.
Es dauerte fast 40 Jahre, bis das Niveau von 1954 in den Beziehungen beider Länder wieder erreicht wurde. 1993 und 2004 wurden Abkommen unterzeichnet, wonach beide Staaten die „Line of Actual Control“, die Waffenstillstandslinie, gegenseitig anerkannten. De facto wurden damit die Vorschläge Chinas vor dem Grenzkrieg von 1962 realisiert. Kritiker monieren allerdings, dass wie 1954 keine exakte Grenzfestlegung erfolgte. Doch beide Staaten können mit der jetzigen Lösung offensichtlich gut leben. Regelmässig finden Grenzgespräche zwischen den höchsten Sicherheitsbeauftragten beider Staaten statt, es besteht ein ausgebauter und gut funktionierender Konsultationsmechanismus.
Zeugnis des neuen Aufschwungs ist ein reger politischer Dialog. In den letzten acht Jahren trafen sich die Ministerpräsidenten beider Länder dreizehn Mal, ergänzt wurde das durch eine Vielzahl regelmässiger Kontakte zwischen Fachministerien. Aufsehen erregte der kürzliche Besuch des chinesischen Verteidigungsministers in Indien. Mit seinem indischen Amtskollegen sprach er sich für eine Zusammenarbeit bei der Erhaltung von Frieden und Stabilität in der asiatisch-pazifischen Region aus. Gemeinsame Militärmanöver sollen wieder aufgenommen werden. Auch der Handelsaustausch wuchs kräftig und erreichte 2011 74 Milliarden US-Dollar. Den neuen Ton Indien gegenüber hatte Chinas Ministerpräsident eingeleitet, der von einer notwendigen Konsolidierung des gegenseitigen Vertrauens sprach. Vorrang solle neben der Handelsentwicklung der Lösung der Grenzfrage eingeräumt werden, so Wen. Sein Aussenminister ergänzte, dass China sensible Fragen in den Beziehungen sehr sorgfältig behandeln will. Indien lud chinesische Firmen ein, in die Infrastruktur des Landes mit seinem riesigen Nachholebedarf zu investieren. Auch solle über die Aufteilung von Wasser bei grenzüberschreitenden Flüssen verhandelt werden.
Es ist zu hoffen, dass damit das immer noch bestehende Misstrauen zurückgedrängt wird. Wesentlicher Grund dafür ist die Unterstützung Pakistans durch China, vor allem auf dem Gebiet der Rüstung. Auch erinnert China von Zeit zu Zeit – trotz Grenzübereinkunft – an seine alten Gebietsforderungen. Die chinesische Regierung hingegen beobachtet argwöhnisch das US-Bestreben, Indien in seiner Pazifik-Strategie in eine Stellvertreterrolle zur Wahrung seiner Interessen im Indischen Ozean zu drängen. Kürzlich „verwarnte“ es indische Firmen, die Vietnam bei der Offshore-Erdölförderung vor dessen Küste unterstützen.
Ermutigende Zeichen werden dagegen auch durch ein gemeinsames Auftreten in den neuen multilateralen Foren wie den BRIC-Staaten oder der Shanghai-Gruppe gesetzt. Hier gibt es eine zunehmende Koordinierung von Aktivitäten in weltpolitischen und globalen ökonomischen Fragen, wie der Haltung zum Syrien-Konflikt oder zu Iran. Grosse Bedeutung wird dem Aufbau einer Infrastruktur im rohstoffreichen Mittelasien beigemessen. Projekte, wie die durch China geplante Verlängerung der Eisenbahnlinie von Lhasa nach Indien und über Aksai Chin nach Pakistan sowie die Hebung der unerschöpflichen Ressourcen in der Energieerzeugung durch Staudamm- und Kraftwerksbau im Himalaya könnten vereint angepackt werden. Die Umsetzung derartiger Pläne würde der endgültigen Lösung des leidigen Grenzproblems einen kräftigen Impuls geben. China hat in jüngster Vergangenheit dafür mit Russland ein Beispiel gesetzt. Nach 40-jährigen Verhandlungen und scheinbar aussichtsloser Konfrontation wurde die über 4.000 Kilometer lange gemeinsame Grenze völkerrechtlich abgesichert, und zwischen beiden Staaten entwickelt sich seitdem eine „strategische Partnerschaft“, die ihren Namen wert ist. Sollte das zwischen Indien und China, den beiden asiatischen Giganten mit ihren uralten und bis heute ausstrahlenden kulturellen Werten nicht möglich sein?
Schlagwörter: China, Edgar Benkwitz, Grenzkrieg, Indien, Pakistan, USA