15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Olympische Machtspiele

von Wolfgang Brauer

Es war einmal ein großes Fest, zu dem die Völker aus aus allen Ecken Griechenlands herbeiströmten, fröhlich ihre Waffen niederlegten und sie nicht, nirgendwo, wieder aufnahmen, ehe dieses große Fest vorüber war. Und das fand alle vier Jahre statt und hieß Olympische Spiele in Olympia.
Einer genaueren Prüfung hält die Legende leider nicht stand. Die Spiele zu Olympia in der griechischen Landschaft Elis mit der Hauptstadt Elis auf der Halbinsel Peloponnes (in Olympia selbst wohnten nur ein paar Priester und das Wirtschaftspersonal) waren Bestandteil der Panhellenischen Spiele, und die fanden außer bei Olympia in Delphi, Nemea und Argos sowie in Korinth statt. Immer schön im Wechsel, also jedes Jahr irgendwo einmal. Das würde das IOC heutzutage auch gern tun. Das spülte heute ebenso wie seinerzeit ordentlich Geld in die Kassen. Und das mit dem Frieden war auch nicht ganz so ernst gemeint. Den Sportlern durfte man während der Spiele und auf der Reise zu ihnen nichts antun. Und Waffen durfte man nicht in den Heiligen Bezirk und auf die Stadion-Ränge mitnehmen. Ansonsten war’s wie heute: Es wurde fröhlich gedopt. Was nicht verboten war, war erlaubt. Es wurde vergleichsweise wenig verboten … Die Sieger wurden ebenfalls vergleichsweise erbärmlich entlohnt. In Olympia zu Elis kriegten sie nur ein Stirnband und einen Kranz aus Olivenzweigen. Der war aber Öko, weil aus wilder Olive. Wie heute flossen die großen Gelder und Posten und was weiß ich nicht noch alles an die Athleten selbstverständlich erst bei der Rückkehr ins heimatliche Städtchen. Und wie heute gingen die Verlierer leer aus. Fußball war noch nicht erfunden.
Ansonsten war das Ganze ein kultischer Akt – in Olympia feierte man den Zeus und opferte ihm am ersten Tag der Spiele 100 Stiere. Das sind bei mindestens 292 Veranstaltungen der Antike mindestens 29.200 Rinder, die allein am Altar des Zeus zu Olympia ihr Leben lassen mussten. Und es war eine Art Gipfeltreffen der hellenischen Politprominenz sowie des seinerzeitigen Geldadels, und das ist wiederum wie heute.
Vortrefflich studieren kann man dies alles zurzeit in Berlin. In einer Ausstellung unter dem Titel „Mythos Olympia. Kult und Spiele“ im Martin-Gropius-Bau an der Stresemannstraße. Eingeweihten Menschen wird sie Lust und Ärgernis zugleich sein: Lust, weil eine Vielzahl von Exponaten zusammengetragen wurde, deren Besichtigung ansonsten aufwendiger Reiseanstrengungen bedürfte. Ärgernis, weil eben die spannenden nicht-künstlerischen und nicht unmittelbar-kultischen Zusammenhänge und Hintergründe nur unzureichend dargestellt werden.
Edle Einfalt, stille Größe allein sind langweilig. Nichteingeweihte Menschen bedürfen auch und gerade für deren Verständnis klug aufbereiteter „Lesehilfen“. Im Lichthof des Gropius-Baues sind beispielsweise die Friese an den Giebeln des großen Zeus-Tempels von Olympia rekonstruiert: Am Westgiebel ist dargestellt, wie Apollon und Theuseus die Kentauren meuchelten, weil die sich auf der Hochzeitsfeier eines thessalischen Königs (die Eleer der Peloponnes betrachteten sich als Nachfahren dieser Nordgriechen) danebenbenahmen. Jeder ordentliche Grieche setzte natürlich Theseus irgendwie synonym mit Athen, dem Todfeind Spartas. Sparta war aber auf der Halbinsel Vormacht und Nachbar. Athen mit seinem Seebund war allerdings auch nicht zu unterschätzen … Also durfte Sparta an der Spitze des Westgiebels einen bronzenen Hoplitenschild anbringen, den die Spartaner den Athenern in der für letztere übel ausgegangenen Schlacht von Tanagra (457 vor unserer Zeit) abgenommen hatten. In der Ausstellung selbst triumphiert der kunsthistorische Kuratorenstolz. Das eben Beschriebene muss man nachlesen – im Katalog. Der ist vergleichsweise zwar preiswert, schreckt aber durch seinen Umfang Nichteingeweihte ab.
Überhaupt wurden in Olympia – und werden in der Berliner Ausstellung – eine Menge Waffen präsentiert. Der olympische Zeus war ein ziemlich kriegerischer Bursche, und ein mykenisches Schwert ist auch das erste Exponat, das ins Auge fällt. Die Ausstellungsmacher verweisen aber lieber auf die Statuette eines Läufers aus der spätarchaischen Periode (um vor unserer Zeit), auf dessen rechtem Körperprofil die Inschrift „Ich gehöre Zeus“ sichtbar ist – eine Votivfigur also. Worum es eigentlich geht, das wird dann schon im nächsten Saal, der dem Zeus-Altar gewidmet ist, sichtbar. Den dominieren die Waffen.
So groß ist der qualitative Bruch also nicht zwischen den Olympischen Spielen der Antike und denen der Neuzeit. Auch heutigen Tages liegt der Sport zumeist in den Händen von für Wehr und Waffen oder zumindest die Polizei zuständigen Ministerien. Und die modernen Spiele sind durchaus Instrument einer oftmals präkriegerisch daherkommenden Außenpolitik. Die Sportpolitiker behaupten seit Pierre de Coubertin zwar permanent das Gegenteil. Die Realität straft sie aber ebenso permanent Lügen. Trotzdem sind die Spiele eine schöne Sache – und viele Exponate in der Ausstellung auch. Starke Athleten sind da zu sehen, selbst wenn von manchem nur noch ein Fuß überliefert ist. Mein Lieblingsstück ist aber eine Statue, die völlig aus der Reihe fällt: Nichts Griechisches, sondern eine römische Kopie aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeit nach einer sehr viel älteren griechischen Statue. Allerdings sieht die ziemlich römisch aus. Kein Athlet, sondern eine junges Mädchen, eine Läuferin. Sie steht heute in der Galleria dei Candelabri in den Vatikanischen Museen in Rom. An den klassischen Spielen durften Frauen ja nicht teilnehmen. Aber zwischendurch gab es der Hera geweihte Spiele. Die waren den Frauen vorbehalten. Die in Starterinnenpose dargestellte zierliche Läuferin wiegt die diskuswerfenden Muskelprotze voll auf. Gehen Sie hin, erweisen Sie ihr Ihre Referenz!
Ach so, Athen. Athen hat es trotz heftiger Bemühungen nie geschafft, in den Reigen der Austragungsorte der anerkannten panhellenischen Spiele aufgenommen zu werden. Das erinnert irgendwie an die verzweifelten Bemühungen „Spree-Athens“, also unserer wunderschönen Stadt Berlin, durch eine Neuauflage die grandiose Peinlichkeit von 1936 im Hintergrund verschwinden zu lassen. Dem attischen Athen traute die damalige griechische Kultgemeinschaft offenbar auf ähnliche Weise wie die heutige Welt dem Athen an der Spree über den Weg…

Mythos Olympia – Kult und Spiele in der Antike, Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 7. Januar 2013, Mittwoch bis Montag 10 bis 19 Uhr, Katalog (in der Ausstellung) 25,00 Euro.