von Kai Agthe
2010 wäre der Schriftsteller Horst Bienek, der 1968 mit dem Roman „Die Zelle“ einer breiten lesenden Öffentlichkeit bekannt wurde, 80 Jahre alt geworden. Der aus dem oberschlesischen Gleiwitz, dem heutigen Gliwice, stammende Autor starb 1990 an Aids in München. Damit war 2010 auch an seinen 20. Todestag zu erinnern. Dieses Doppeljubiläum nahm die Leibniz-Bibliothek in Hannover, die 1990 Bieneks Nachlass erworben hatte, zum Anlass, den wichtigen Dichter 2011 mit einer Tagung zu ehren. Deren Referate liegen nun als Buch vor. Sie zeichnen ein überaus detailliertes Bild vom Leben und Werk dieses Autors, den die Herausgeber Reinhard Laube und Verena Nolte – Eric Hobsbawms Wort vom „Zeitalter der Extreme“ aufgreifend – mit gutem Recht einen „Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts“ nennen.
Die ersten 16 Lebensjahre verbrachte Horst Bienek in seiner Geburtsstadt. 1946 übersiedelte die Familie nach Köthen, ab 1949 war er als Journalist und Autor in Potsdam ansässig. Wegen angeblicher Spionage und Hetze gegen die Sowjetunion wurde Horst Bienek 1951 verhaftet. Er war in jener Zeit Schüler Bertolt Brechts am Berliner Ensemble, der jedoch gegen die Verhaftung des 21-Jährigen nicht intervenierte. Durch ein sowjetisches Militärtribunal in einem stalinistischen Schauprozess zu 20 Jahren Arbeitslager verurteilt, deportierte man Bienek nach Sibirien, wo er vier lange Jahre im Kohlebergbau Zwangsarbeit zu leisten hatte.
1955 durch Amnestie in die Bundesrepublik entlassen, arbeitete Bienek zunächst als Redakteur und Lektor, widmete sich aber immer intensiver dem literarischen Schreiben. Zu seinem Hauptwerk zählt neben der so genannten. „Gleiwitz-Tetralogie“, einem zwischen 1975 und 1982 erschienenen epischen Zyklus, auch der Roman „Die Zelle“. In letzterem verarbeitete Horst Bienek seine Erfahrungen in der DDR-Untersuchungshaft des Jahres 1951. Erst kurz vor seinem Tod begann Bienek, sich auch mit seinen Erfahrungen der Lagerhaft in Workuta auseinanderzusetzen. Doch diese literarische Aufbereitung blieb Fragment. Im Jahr 1994 wurde Horst Bienek auf Antrag von einstigen Mithäftlingen und seiner Schwester in Moskau offiziell rehabilitiert.
Die vorliegende Aufsatzsammlung ist das erste größere Werk zu Horst Bienek seit 25 Jahren. In Bieneks Todesjahr 1990 war ein von Michael Krüger herausgegebener Band mit Texten zum Oeuvre des Autors erschienen, der freilich nur eine überarbeitete und erweiterte Ausgabe eines Materialienbandes von 1980 darstellte. Diese lange wissenschaftliche Durststrecke mag überraschen, wenn man daran erinnert, dass Horst Bieneks der verlorenen Heimat gewidmete Prosa im Grunde einen ähnlichen Stellenwert in der deutschen Literatur besitzen müsste wie die von Günter Grass oder Johannes Bobrowski. Horst Bieneks „Gleiwitzer Tetralogie“ etwa wird aus gutem Grund Grass‘ „Danziger Trilogie“ zur Seite gestellt und könnte sich auch an Bobrowskis großen Romanen „Levins Mühle“ und „Litauische Clavieren“ messen lassen.
Horst Bieneks literarisches und filmisches Werk (1972 erschien der Film nach seinem Roman „Die Zelle“, zu dem der Autor auch das Drehbuch verfasst hatte) wird in den Texten von 14 deutschen und polnischen Germanisten unter verschiedenen Aspekten betrachtet. Besonderes Interesse dürfen das Interview mit Bieneks Verleger Michael Krüger, Andreas Petersens Beitrag über Bieneks ungeschriebenen Workuta-Roman, Daniel Pietreks Aufsatz über Bieneks Verhaftung 1951, Sebastian Mrozeks Artikel über die Bienek-Rezeption in Polen sowie Tilman Urbachs Ausführungen zu Horst Bieneks bis dato unveröffentlichten Tagebüchern beanspruchen. Letztere waren vom Autor zur Veröffentlichung bestimmt und sollen, so Tilman Urbach, eindrucksvoll zeigen, dass Bienek zeitlebens ein Getriebener war: literarisch wie persönlich.
Horst Bienek – Ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Reinhard Laube und Verena Nolte, Wallstein-Verlag, Göttingen 2012, 286 Seiten, 19,90 Euro
Schlagwörter: Horst Bienek, Kai Agthe