15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

„Fisch vom Fußboden“

von Hans-Peter Götz

Das Begriffspaar Alltag in der DDR und Exotik war in der Realität des kleineren deutschen Teilstaates nicht zusammenzudenken – es sei denn, als antagonistischer Gegensatz. Doch wie überall, wo Regeln obwalten, gab es Ausnahmen. Eine davon war zweifellos das legendäre Japan-Restaurant Waffenschmied in Suhl. Dieses HO-Etablissement soll bis zum Ende der DDR über 1,9 Millionen Besucher gehabt haben. Ich halte die Zahl für glaubwürdig. Ich war dabei.
Wann ich das erste Mal was vom Waffenschmied gehört habe, weiß ich nicht mehr, aber es könnte Ende der 70er Jahre gewesen sein und es muss den Hang meiner damaligen Gattin wie auch meinen eigenen zu einer gewissen kulinarischen Exzentrik sehr angesprochen haben. Schnecken sammeln in den Weinbergen um Freiburg an der Saale hatten wir seinerzeit bereits absolviert – samt nachfolgender Zubereitung und eigenhändigem Verzehr, und mit dem Paddelboot über Berliner Gewässer zum Muschelnklauben war etwas später angesagt – gesundheitsgefährdende Ablagerungen infolge Gewässerverschmutzung gab es damals nur in kapitalistischem Schlick!
Wir buchten den Waffenschmied von Berlin aus. Und konnten dann die Vorfreude ausführlich genießen: Die Wartezeit betrug etwa zwei Jahre. Über die Quartierfrage machten wir uns erst gar keine Gedanken: Auch in Suhl waren Hotels und ähnliche Unterkünfte Mangelware und im Übrigen immer ausgebucht. Doch wir waren selbst ja ebenfalls in gewisser Hinsicht Exoten: Wir besaßen ein Dachzelt für unseren Trabant. Wer sich darunter nun so garnichts vorstellen kann, der findet mühelos Abbildungen im Internet.
Als es soweit war, bot der Waffenschmied ein kulinarisches Erlebnis mit „ethologischem“ Beiwerk, das den Aufwand allemal rechtfertigte – auch wenn das sagenhafte Bad, in dem sich Frauen und Männer  – bevor die eigentliche Speisezeremonie ihren Anfang nahm – den Schmutz von den Leibern spülten, wie der Herrgott sie erschaffen hatte, nicht im Entferntesten so verrucht war wie der Ruf, der ihm vorauseilte. Exotik ja, Erotik – Fehlanzeige. Also fast  – denn in dem warmen Sitzbad saß man sich zumindest so nah’ gegenüber, dass man sich bei gestreckten Beinen mit den Zehen wechselseitig die Fußsohlen massieren konnte, und das gehörte auch zum dortigen Opening-Ritual.
Nach der Statistik hatte nur etwa jeder neunte DDR-Bürger das Vergnügen, den Waffenschmied live zu erleben. Der Rest wie auch alle anderen Interessierten hat jetzt die Chance, dies zumindest visuell nachzuholen: Der ebenso köstliche (schönes Wortspiel in diesem Kontext!) wie real-satirische und anrührende Streifen „Sushi in Suhl“ läuft derzeit in den Kinos.
Die pejorative Formulierung „Fisch vom Fußboden“ fällt im Film in der Anfangsphase, als der Erfinder des Ganzen, der – heute bereits verstorbene – Suhler Gastwirt Rolf Anschütz, noch ohne Weiteres an den systemischen Widrigkeiten des Alltags in der DDR wie auch an der Innovationsresistenz der HO-Obrigkeit („Eigeninitiative ist der Feind der Volkswirtschaft“) sowie an seiner mit dem täglichen Gaststätten-Chaos zwischen Thüringer Klößen und Mangelwirtschaft überforderten Ehefrau hätte scheitern können. Die Japaner sitzen ja bekanntlich mit untergeschlagenen Beinen zu ebener Erde, während sie essen, und sie bevorzugen auf eine für Eisbein- oder Bratwurstanbeter geradezu abartige Weise (rohen) Fisch. Insofern trifft die Formulierung „Fisch vom Fußboden“ doppelt – nämlich sowohl die Eigenart der Japaner als auch deren quasi zwangläufige Reflexion in der dazumal wenig weltläufigen DDR.
Auch-schon-mal-Blättchen-Autor Uwe Steimle gibt in einem bis auf die letzte Nebenrolle stimmigen Ensemble den Anschütz, und das gelingt ihm kongenial – nur sein Sächsisch ist für Suhl ein Stilbruch. Aber im Vorspann heißt es ja auch: „Frei nach einer wahren Geschichte“.

„Sushi in Suhl“, Regie: Carsten Fiebeler; derzeit in guten Kinos.