15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Eine Unterkunft in Nakano: Meine erste Woche in Japan

von Sem Pflaumenfeld, z. Z. Tôkyô

Wenn ich auf meinem Schreibtischstuhl sitze, kann ich ein wenig vom Tag sehen. Aus Kostengründen ist das Möbelstück eher einem Barhocker ähnlich als einem Stuhl, der sich für ernsthafte Arbeiten an Texten eignen würde. Ich bin nur froh, dass ich mit meinen Maßen in dieses Zimmer passe. Meine erste Amtshandlung, nachdem ich übermüdet und schwer bepackt angekommen war, war eine Umstrukturierung der mir verfügbaren Möbel, um beim Schreiben aus dem Fenster sehen zu können. Wer japanische Wohnverhältnisse näher kennt, weiß, dass dies im Erdgeschoss eher eine Wunschvorstellung ist. Ich sehe aus meinen beiden Fenstern jeweils auf die Mauer, die im Abstand von einem unglaublichen Meter vor mir aufragt. Das Haus selbst steht etwas abgesetzt von der Straße, weswegen ich durch zwei Nachbarhäuser auf das Haus auf der anderen Seite der Nebenstraße sehe. Und die benachbarten Menschen können mir ins Fenster schauen, wenn sie es wollen.
Nakano ist ein ruhiger Außenbezirk von Tôkyô mit einer angenehmen Kleinstadtatmosphäre. Hier komme ich mit den Menschen ins Gespräch, sobald ich Reis und Gemüse kaufen gehe. Obligatorisch wird nach meiner Herkunft und nach meinen Japanischkenntnissen gefragt. Bis zum Bahnhof sind es 15 Minuten zu Fuß. Es würde sich fast lohnen, ein Fahrrad zu kaufen. Das sagt eine, die notorisch zu Fuß geht, weil sie auf zwei Rädern noch immer andere Menschen von deren Drahtesel geholt hat. Aber in diesen ruhigen Straßen kann niemanden wirklich etwas passieren.
Der Flug hierher war weniger ermüdend, als ich befürchtet hatte. Virgin Airlines bemühte sich wirklich, es mir so bequem wie möglich in der Hartholzklasse zu machen. Ich wurde noch nie so häufig mit „dear“ und „darling“ angesprochen wie von diesen Flugbegleiterinnen und -begleitern. Dass sie mir zwischendurch Wasser über den Schoß kippten und den Bildschirm abdrehten, fiel dann gar nicht so schwer ins Gewicht. Ich war vorher auch noch nie mit einer Pilotin geflogen. Das Essen war angenehm und reichlich. Ich habe sogar während der elfeinhalb stündigen Flugzeit eine halbe Stunde geschlafen.
Die Müdigkeit, die mich nach der Ankunft in meinem kleinen Zimmer überfiel, lag nicht nur daran. Ich musste mir ja unbedingt einen Rucksack zulegen, der mit seinen 18 Kilogramm dieses Mal auch dann nicht leichter wurde, als ich mich nach der Ankunft am Flughafen Narita wegen einer Fahrkarte nach Tôkyô anstellte. Die anderen Menschen wollten vor allem ihren Japanese Railpass abholen; ich nur eine Karte der staatlichen Bahnen (JR) für meinen Verkehr in der Hauptstadt. Ich wurde dann auch etwas ungehalten, als es nicht schnell genug ging. Beinahe wäre ich anschließend im Zug eingeschlafen. Als ich auf der Fahrt durch die Präfektur Chiba die Häuser und Reisfelder an mir vorbeiziehen sah, fühlte ich mich seltsam angekommen. Die Temperatur von 23 Grad mag dazu beigetragen haben, dass ich zwar körperlich am Ende war, mich jedoch gleich wohlzufühlen begann.
Mein Haus ist ein kleines zweistöckiges, mit drei Zimmern, Bad und Küche. Nachts läuft etwas durch das Gebälk, und ich weiß noch immer nicht, was mein Mitbewohner aus Südkorea in seinem Zimmer treibt. Er scheint etwas zu sägen. Ich dachte ja erst an an die sprichwörtliche Schwiegermutter, aber jene dürfte dann doch nicht aus Holz sein. Er läuft über meinem Kopf auf und ab und scheint besonders in der Dunkelheit sein Zimmer putzen zu wollen. Er schiebt seine Möbel über die Tatamimatten. Damen- oder Herrenbesuch würde ich dagegen noch spannend finden. Mittlerweile stehen mehrere Paar Schuhe im Schrank im Flur, und ich frage mich, wie viele Menschen sollen hier wohnen? Abgesehen von den vierbeinigen Besuchern scheinen wir auch noch Mücken zu haben, die sich für Vampire halten: Ich habe jeweils zwei Stiche im gleichem Abstand voneinander auf meinen Füßen. Eigentlich hatte ich mich schon gefreut, im Sommer in Deutschland nicht zerbissen worden zu sein. Ich finde dieses alte Haus von Tag zu Tag aufregender, denn es knarzt und knarrt.
Eigentlich ist der Herbst die Jahreszeit der Erdbeben und Taifune. Erstere fegen derzeit allerdings an den Inseln im Pazifik vorbei und lassen Japan im Allgemeinen in Ruhe. Dafür greifen sich die Menschen hier gerade gegenseitig an. In meiner ersten Woche verging kein Tag ohne eine Meldung über Angriffe von älteren Menschen oder so genannte Familientragödien oder eine Vergewaltigung durch amerikanische Soldaten auf Okinawa.
Die Wahlen in den USA werden mit gemischten Gefühle gesehen. Ob Japan mit einem Sieg von Mitt Romney wirklich gedient wäre, wage ich zu bezweifeln. Nur weil Obama sich eher Südostasien zuwendet, sollte man sich nicht dazu verführen lassen, jemanden zu wollen, der mit Japan gar nichts anfangen kann. Ansonsten legen sich Japan und China in festen kleinen Schritten weiter mit einander an. Am letzten Dienstag waren 67 Abgeordnete – ganz privat natürlich – im umstrittenen Yasukuni Jinja, in welchem die Geister der in den Tôkyôter Kriegsverbrechertribunalen 1946/47 zum Tode Verurteilten verehrt werden. Das war einen Tag, nachdem sieben chinesische Kriegsschiffe sich dem japanischen Seehoheitsgebiet gefährlich genähert hatten. Die japanische Autoindustrie verzeichnet gleichzeitig empfindliche Einbußen im chinesischen Markt. Ansonsten werde ich aus den japanischen Nachrichten nicht schlau, was ich anfangs auf meine Sprachkenntnisse schob. Die gleichen Dinge werden an jedem Tag wiederholt, vielleicht ein wenig qualifizierter, wenn sich etwas ergeben haben sollte. Worum es jedoch genau geht, wird nicht gesagt; Hintergründe suche ich vergebens. Dafür bekomme ich Informationen über Versuche im Zoo, ob Bären Reis fressen, weil ein Bär in einem Reisfeld gesehen worden ist. Und dann wird die gesamte Bevölkerung damit irre gemacht.
Am Mittwoch war ich in der Parlamentsbibliothek; das heißt, ich wollte dorthinein. Ich muss wohl den dritten Mittwoch im Monat erwischt haben, denn ich stand vor verschlossenen Türen. Eigentlich stand ich vor einem jener älteren Herren, die nach ihrer Pensionierung für Dienste angestellt werden, die eine gewisse Umleitungsfunktion haben. Deswegen ging ich an jenem Tag dann zum Museum für Verfassung und Politik gegenüber dem Unterhaus. Dort konnte ich nachempfinden, wie sich so ein Abgeordneter im Maßstab 2 : 3 anfühlt beziehungsweise wie er im Parlament sitzt.
Gleich am zweiten Tag meines jetzigen Aufenthaltes kaufte ich mir – sehr zum Erstaunen so mancher japanischer Bekannter – Reis. Es scheint nach wie vor unvorstellbar zu sein, dass Menschen aus dem Ausland lieber Reis als das überteuerte Brot essen. Und mit einem Reiskocher ist das auch alles keine Frage der Zubereitungszeit. Ob ich sechs Scheiben luftiges und wegen der Inhaltsstoffe lange haltbares Weißbrot oder zwei Kilogramm Reis kaufe, die zwei Wochen reichen können, ist aber eine ökonomische und gesundheitspolitische Abwägung. Ich trinke auch gern Kaffee in Japan, selbst wenn ich hier nicht so bourgeois in Cafés schreiben und lesen kann wie in Berlin. Es gibt hier interessante Geschmackssorten beim Kaffee. Und so wie sich der grüne Matcha-Tee mit Milch derzeit in deutschen Franchiseunternehmen auszubreiten scheint, ergeht es in Japan der Esskastanie.
Ich sitze hier gern am Bahnhof und höre den Damenkränzchen bei ihrem Nachmittagsplausch über Hochzeiten, neue Arbeiten und Kinder zu. Ich werde wohl auch bald wie sie klingen. Doch trübt mein Vergnügen, dass es für meine Atemwege fast keinen Unterschied macht, ob ich mich vor die Scheibe mit den Nichtraucherplätzen setze oder gleich zu den Glimmstengeln.
Es ist Herbst, also fällt die Temperatur abends unter zehn Grad Celsius. Tagsüber liegt sie noch bei über 20 Grad. Und der herbstliche Regen unterstreicht den Wechsel der Jahreszeiten. Meine Schuhe wurden auch gleich durchgeweicht. Ich werde mir wohl neue kaufen müssen.

Wird fortgesetzt.