von Ulrich Kaufmann
35 Jahre nach dem Erscheinen des autobiographischen Romans „Kindheitsmuster“ (1976) kam Christa Wolf nochmals auf dieses Sujet zu sprechen: August, die Titelfigur ihrer späten Geschichte, gerät in der Endphase des Zweiten Weltkrieges in ein mecklenburgisches Schloss, das die neuen Bewohner in „Mottenburg“ umtaufen. Diese wird provisorisch als Krankenhaus genutzt. Auch der Achtjährige, der mit großer Wahrscheinlichkeit beide Eltern verloren hat, ist infolge von Mangelernährung an Tuberkulose, an den „Motten“, erkrankt. „Nach dem Krieg hatte jeder Tuberkulose“, sagte die Oberschwester.
Die Erzählperspektive orientiert sich stark an dem verwaisten Jungen. August fehlt die Stütze durch die mütterlichen Sprache. Er hört um so genauer, wie die anderen Erwachsenen reden und werten. Ärzte und Schwestern sind überfordert. August kommen diese Menschen alt, runzlig und müde vor. Um so mehr vergöttert der Achtjährige die etwa doppelt so alte couragierte und hilfsbereite Lilo. „August fand die Lilo schön, und das findet er noch heute auf seinem Fahrersitz in dem Reisebus.“
Nach sechs Jahrzehnten blickt August auf das Dreivierteljahr zurück, das er in der Mottenburg verbrachte. Die Autorin schildert eine Zeit voller Entbehrungen, Schmerzen und Hunger. Mancher der Patienten überlebt die Mottenburg nicht. In Christa Wolfs erzählenden Texten (wie in ihrem Leben) spielten Volkslieder eine herausragende Rolle, ebenso in ihrem jüngsten Buch. „Die Lilo hat auch gern gesungen, oft kam Gesang aus dem Frauensaal.“ Das Lied „Wer recht in Freuden wandern will“ kann August noch heute, „ aber er hat es seit damals nie wieder gesungen. Wo auch, mit wem auch. Trude (seine verstorbene Ehefrau – U.K.) war keine große Sängerin.“ Mit Lilo erfährt er, dass „Trauer und Glück miteinander vermischt sein können.“ Rückblickend heißt es. „Vielleicht hat er das Wichtigste für sein ganzes Leben so früh gelernt, mit Hilfe einer, für die er etwas empfand, für das er keine Worte wusste.“
Die Büchner-Preisträgerin des Jahres 1980 rückt in ihrem letzten Text einen unspektakulären, „anständigen“ Menschen, einen Busfahrer am Ende seines Berufslebens in den Fokus der Erzählung. Sie knüpft damit an Bemühungen ihrer Mentorin Anna Seghers mit dem Zyklus „Die Kraft der Schwachen“ und an Werner Bräunigs Erzählungen von den „Gewöhnliche (n) Leuten“ aus den sechziger Jahren an, die deutlich nicht die Königsebene, die Ebene von Planern und Leitern einnahmen. Die Wolf erzählt hier ganz sparsam, lakonisch. Für ihren Protagonisten, der „nie ein Held des Schriftlichen“ war und dem Lilo fast vergeblich Grundregeln der Rechtschreibung zu vermitteln suchte, findet Christa Wolf abschließend genau die passenden Worte. „Er fühlt etwas wie Dankbarkeit dafür, dass es in seinem Leben etwas gegeben hat, was er, wenn er es ausdrücken könnte, Glück nennen würde.“
Der aufmerksame Leser erfährt am Schluss des Buches durch eine handschriftliche Notiz vom 28. Juli 2011, dass Christa Wolf diese „beschriebenen Blätter, in die viel Erinnerung eingeflossen ist“, ihrem Mann wohl zum 60. Hochzeitstag geschenkt hat. Sie wollte etwas zu Papier bringen aus einer Zeit, in der sich Christa Ihlenfeld und Gerhard Wolf noch nicht kannten. „Große Worte sind zwischen uns nicht üblich. Nur so viel: Ich habe Glück gehabt. C. “
Christa Wolf: August, Suhrkamp, Berlin 2012, 38 Seiten, 14,95 Euro
Von der Erzählung gibt es auch ein von Dagmar Manzel gelesenes Hörbuch.
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