von Klaus Hammer
Mangelnde Resonanz auf seine erste Partitur „Das klagende Lied“ ließ Gustav Mahler vom Komponieren zum Dirigieren wechseln. Zielstrebig gestaltete er von nun an eine Kapellmeisterlaufbahn, folgte 1891 einem Ruf an die Hamburger Bühnen (dort bewunderte ihn Tschaikowski als Dirigenten seines „Eugen Onegin“), gastierte 1892 von Hamburg aus in London mit Wagners komplettem „Ring des Nibelungen“ und ging fünf Jahre später mit einem Vertrag auf Lebenszeit nach Wien an die Hofoper, wo er sich besonders für Gluck, Mozart, Weber und Wagner einsetzte. Doch seine künstlerische Unnachgiebigkeit führte dazu, dass er nach 10 Jahren der geballten Antipathie des Hauses – und zudem noch einer anhaltenden Pressekampagne – weichen musste und als Gastdirigent an die New Yorker Metropolitan Opera wechselte. Hier legte er den Akzent auf Mozart, Wagner und Smetana. Mittlerweile hatten ihn die Wiener Philharmoniker zu ihrem Chef gemacht (1898-1901). Zuletzt, 1909-1911, war Mahler Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, mit denen er einen kompletten Bruckner-Zyklus aufführte.
Dem Dirigenten Mahler entspricht der Symphoniker Mahler. Als erklärter Dostojewski-Verehrer hat er wie Beethoven vor und Schostakowitsch nach ihm, aber ungleich farbiger und sinnlicher, diese klassischste aller Gattungen zur philosophisch-psychologischen Arena gemacht. Symphonie bedeutet für ihn, „mit allen Mitteln der vorhandenen (Kompositions-)Technik eine Welt aufbauen“. Die lebenslange Auseinandersetzung mit der Symphonie verband er mit einem klaren Sendungsbewusstsein: „Meine Zeit wird kommen“. Und sie kam auch wirklich, wenn auch erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod. Gustav Mahler ist heute weltweit ein anerkannter Kulturbesitz und in den großen Konzertsälen immer wieder eine Herausforderung. Er zählt zu den international am häufigsten aufgeführten Komponisten und wird als Symphoniker Beethoven ebenbürtig angesehen. Aber immer noch fehlt eine historisch-kritische Edition seiner Werke und Briefe, unersetzliche Voraussetzung für jede Mahler-Forschung und -Pflege.
Das im Mahler-Jahr 2010 erschienene Mahler-Handbuch, eine zusammenfassende, vom aktuellen Wissensstand ausgehende Darstellung mit vielen brandneuen Erkenntnissen, ist ein unentbehrliches Standardwerk für den Spezialisten wie für den Musik-Freund. 22 Autoren geben nach einer fundierten Einleitung (Bernd Sponheuer berichtet, wie es zur „Mahler-Renaissance“ und zur Aufnahme Mahlers in den Kanon der großen Komponisten kam) ausführliche Darstellungen aller (vollendeten) Werke Mahlers, der frühen Kompositionen (Eckhard Roch), Lieder (Mathias Hansen), Sinfonien (die Autoren werden später genannt) und der von ihm vorgenommenen Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten (Eike Feß). Dazu eine intensive Beschreibung seines Lebens und seiner Welt (Jens Malte Fischer, Verfasser einer hervorragenden Mahler-Biografie), übergreifende Themen wie Mahlers geistige Welt (Adolf Noack), seine kompositorische Herkunft aus dem „langen 19. Jahrhundert“ (Walter Werbeck), Mahlers „Ton“ (Mathias Hansen), sein Ort in der Wiener Moderne (Horst Weber), Mahlers Orchesterklang (Peter Jost), der Schaffensprozess des Komponisten (Peter Andraschke) und das Verhältnis seiner Musik zur Oper (Tobias Janz), schließlich die außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte seiner Musik, in der Musikkritik wie -forschung als auch bei Komponisten (Juliane Wandel, Bernd Sponheuer, Wolfgang Rathert), der musikalisch-praktischen Aneignung in den Aufführungen und Einspielungen seiner Werke (Hartmut Hein) und der Aneignung Mahlers durch das Medium Film (Albrecht Riethmüller). Eigentlich bleibt hier kein für Mahler wesentliches Thema offen, wenn man nicht auch an Mahler in der Literatur und bildenden Kunst denken könnte und wenn nicht vielleicht auch Mahler und Alma Schindler-Mahler ein besonderes Kapitel verdient hätten, obwohl sich Jens Malte Fischer in seinem Biographie-Kapitel dazu äußert.
Von den tief auslotenden Darstellungen der 10 Symphonien, die das Zentrum dieses Kompendiums bilden, sollen hier nur die beiden letzten herausgegriffen werden. Die Uraufführung seiner Neunten Symphonie (1912 in München) hat Mahler nicht mehr miterlebt und dürfte es auch kaum bedauert haben – denn vor der Zahl Neun hatte er im Zusammenhang mit Symphonien eine abergläubische Angst, weshalb er das „Lied von der Erde“ auch nicht mit einer Nummer versehen hat. Der Kopfsatz gilt als „bester Mahler“; das tragisch ausgehende, den großen Krieg antizipierende Finale klingt wie der Rückblick auf eine vergangene Ära. Claudia Maurer Zenck meldet ihre Skepsis an sowohl gegenüber einer biographischen Auslegung der ganz klassisch, in vier Sätzen, gebauten Neunten als auch gegenüber einer Anschauung, in Mahlers Werken seien musikalische “Vokabeln“ mit bestimmter Bedeutung zu finden oder dass die sprechenden Vortragsanweisungen Mahlers, besonders das häufige „ersterbend“, programmatisch-biographisch auszulegen seien.
Die eigentliche „Neunte“ Mahlers wäre die „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-)Stimme und Orchester“ mit dem poetischen Titel „Das Lied von der Erde“ gewesen. Es ist wieder Peter Revers, der sich mit dieser differenzierten Klangfarbenkomposition auseinandersetzt. Auf chinesische Lyrik – von Hans Bethge mehr nachempfunden als übersetzt – schrieb Mahler hier eine exotisch klingende Musik, die höchst modern wirkt und der gerade aufkommenden Zwölftontechnik den Weg bereitete. Man hört tatsächlich heraus, dass der Komponist inzwischen Entscheidendes, Lebensgefährdendes durchlitten hat. Die Klangsprache leitet über von Spätromantik zu Expressionismus. Die Zeit ist aus den Fugen, schreibt Revers, und das umso unwiderruflicher, je mehr ihr die Strenge der sie darstellenden Komposition widerspricht. Vor dem „Finale ‚Abschied’“, einer Todesreflexion, hatte der Komponist selbst Angst und scheute eine Aufführung. „Werden sie sich nicht umbringen?“, fragte er den Dirigenten Bruno Walter. Die Uraufführung kam denn auch in diesem Fall erst nach seinem Tod zustande.
Von einer geplanten Zehnten Symphonie stellte Mahler – in der tiefen privaten Krise steckend, die er in seinem letzten Lebensjahr zu bewältigen hatte – nur das packende Adagio fertig, das den transzendenten Duktus etwa von Bruckners „Neunter Symphonie“ fortschreibt. Die Skizzen der weiteren Sätze gab die Witwe, Alma Mahler-Gropius-Werfel, erst sehr spät zum Druck heraus, denn im Autograph waren Kommentare des Komponisten zu seiner Ehekrise eingestreut. Heute existiert eine von Deryck Cooke vervollständigte Partitur aller Sätze, auf deren Grundlage auch Jörg Rothkamm seine Interpretation vornimmt. So kann er zahlreiche kompositorische Neuerungen feststellen, die Mahlers Zehnte bereits als Torso aufweisen.
Die Symphonien Mahlers setzen – wie schon Theodor W. Adorno 1960 in seiner „musikalischen Physiognomik“ des Komponisten nachgewiesen hat – in der Hypertrophierung Wagnerscher Stilmittel, weit über Richard Strauß hinaus, die Sprünge und Brüche im Gesamtgefüge der Epoche in Klang um. Das an Dissonanzen reiche Verhältnis von Kunst und Leben gilt es in Akkorden zu überführen, hierin steht Mahler in epochalem Einverständnis mit dem Erzähler Thomas Mann.
Bernd Sponheuer / Wolfram Steinbeck (Hrsg.): Mahler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 2010, 504 Seiten, 65,95 Euro
Schlagwörter: Bernd Sponheuer, Ernst Poeschel Verlag, Gustav Mahler, J. B Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Klaus Hammer, Wolfram Steinbeck