von Frank Ufen
In der ersten Hälfte der 1940er Jahre wurde in den Vereinigten Staaten Fleisch immer mehr zur Mangelware – denn immer größere Fleischmengen wurden für die Versorgung der Truppen auf den europäischen und pazifischen Kriegsschauplätzen benötigt. Schließlich beauftragte das Verteidigungsministerium eine Reihe von Sozialwissenschaftlern damit zu ergründen, wie man der amerikanischen Bevölkerung beibringen könnte, an verschmähten Innereien Geschmack zu finden. Die Forscher warteten am Ende mit einer eindeutigen Handlungsanweisung auf: Man muss die Innereien so zubereiten, dass sie dem Aussehen, Geruch und Geschmack der herkömmlichen Gerichte so nahe wie möglich kommen. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Nieren, Leber und andere Innereien auf der Speisekarte der Amerikaner ziemlich weit nach oben gerückt. In den Vereinigen Staaten sollten danach noch etliche andere Regierungen versuchen, durch großangelegte Kampagnen die Ernährungsgewohnheiten tiefgreifend zu verändern. Doch diese Versuche scheiterten samt und sonders kläglich.
Vor einigen Jahren wandte sich eine 24-jährige Studentin namens Mandy an eine Beratungsstelle ihrer Universität. Die amerikanische Studentin benötigte dringend psychotherapeutische Hilfe, denn sie konnte es sich nicht abgewöhnen, derart exzessiv an ihren Fingernägeln zu nagen, bis es blutete und nur noch Stümpfe übrig blieben. Der Therapeut forderte die Studentin zunächst auf, einer Karteikarte jedes Mal einen Eintrag hinzuzufügen, wenn sie in ihren Fingerspitzen eine Anspannung – der Auslösereiz für ihr Nägelkauen – verspürte. Danach erhielt Mandy die Instruktion, von nun an bei jedem Auslösereiz mit ihren Händen irgendetwas zu tun, was sie daran hinderte, sich ihre Finger in den Mund zu stecken. Unmittelbar danach sollte Mandy etwas tun, wodurch sie sich eine schnelle physische Stimulation verschaffen konnte – beispielsweise mit den Fingern auf den Schreibtisch klopfen. Nach nur vier Wochen war eine neue Gewohnheitsschleife entstanden, die die des Nägelkauens völlig ersetzt hatte.
Schlechte Gewohnheiten – behautet der amerikanische Wissenschaftsjournalist Charles Duhigg – können allein dadurch überwunden werden, dass man sie in andere Gewohnheiten verwandelt. Das würde allerdings nur funktionieren, wenn man von den drei Grundelementen jeder Gewohnheitsschleife – ein Auslösereiz, eine eingeschliffene Verhaltensweise und eine Belohnung – das erste und dritte beibehalte, das mittlere hingegen durch eine neue Routine ersetze.
Gewohnheiten entlasten das Gehirn und ersparen ihm ungeheuer viel Energie und Zeit. Laut Duhigg ist das Gehirn allerdings außerstande, zwischen guten und schlechten Gewohnheiten zu unterscheiden. Dafür weiß es ziemlich genau, welchen Gewohnheiten es wann das Kommando übergeben sollte. Es orientiert sich nämlich an der Intensität seiner eigenen Aktivität, die immer dann ihr größtes Ausmaß erreicht, wenn eine Handlungseinheit entweder einsetzt oder wenn sie zu Ende geht. Folgt danach eine angemessene Belohnung, wird es die gesamte Gewohnheitsschleife speichern.
Gestützt auf diese Hypothesen, analysiert Duhigg zunächst die Verhaltensgewohnheiten von Individuen und demonstriert, dass es oft genügt, bei einer Schlüsselgewohnheit anzusetzen, um etliche andere, mit ihr verschränkte Verhaltensweisen grundlegend zu verändern. Danach beschäftigt sich Duhigg mit Organisationen und Großunternehmen wie Procter & Gamble, Alcoa und Starbucks, denen es in seinen Augen gelungen ist, sich selbst durch die radikale Veränderung von Schlüsselgewohnheiten völlig zu erneuern – wobei er Unternehmen durch einen ständigen Kampf aller gegen alle charakterisiert sieht und ihre konstitutiven Gewohnheiten als Ergebnisse von Waffenstillständen begreift.
Zum Schluss geht Duhigg direkt zur Gesellschaftsanalyse über und überrascht mit der These, dass das Erfolgsgeheimnis Martin Luther Kings und der Bürgerrechtsbewegung im Wesentlichen darin bestanden habe, eine Reihe traditioneller sozialer Gewohnheiten aus den Angeln zu heben.
Charles Duhigg erhebt den Anspruch, sehr viel erklären zu können. Diesen Anspruch kann er längst nicht immer einlösen. Umso aufschlussreicher ist das, was er darüber zu sagen hat, wie Individuen schlechte Gewohnheiten und suchtartige Verhaltensweisen entwickeln, wie diese Automatismen überwunden werden können und wie verhindert werden kann , dass es zu Rückfällen kommt. Ein Buch, aus dem man sehr viel lernen kann.
Charles Duhigg: Die Macht der Gewohnheit, Berlin Verlag, Berlin 2012, 428 Seiten, 22,90 Euro
Schlagwörter: Charles Duhigg, Frank Ufen, Gehirn, Gewohnheiten, Reiz