von Reinhard Wengierek
Es war vor drei Jahrzenten im frisch etablierten Studio des Deutschen Theaters Berlin (DT). Büchners „Lenz“-Novelle war angesagt. Als Lesung mit der am Haus seit längerem extrem unterbeschäftigten Käthe Reichel – und das war eine Sensation. Die Reichel am Tisch, ein elegant kleines, kostbares Möbelstück, vor sich das Büchlein mit dem großen Text, den sie offensichtlich im Kopf hatte ‑ kein Blick aufs Gedruckte. Und den sie gewiss seit langem schon im Herzen trug. Denn es war herzergreifend, aber frei von jedweder Gefühligkeit. Eine subtile psychologische Tiefenbohrung bei kühler, ja ernüchternd scharfer Klarheit. Das Publikum blieb stumm vor Überwältigung. Dann raste Beifall, der wiederum die Reichel sichtlich überwältigte. Sie war wieder da! Auch intern, denn die Intendanz ehrte ihr Ensemblemitglied (seit 1961) mit der Auszeichnung „Aktivist der sozialistischen Arbeit“. Das galt nicht allein der „Lenz“-Leistung; das war auch ein Handschlag, eine Wiedergutmachung für langjährige – ja doch – Ausgrenzung. Für „von oben“ verordnetes künstlerisches Kaltstellen einer politisch Unliebsamen.
Käthe Reichel wurde Anfang März 1926 im Zilleschen Hinterhof-Milieu von Berlin-Mitte geboren. Nach einer Lehre zur Textilverkäuferin ging sie, der Krieg war gerade vorbei, ohne eine schauspielerische Ausbildung nach Thüringen. Ans Theater in Greiz; dann nach Gotha und Rostock. Dort, am Volkstheater, fand sie Bertolt Brecht. Der suchte allerorts nach jungen, „unverbildeten“ Kräften. Für sein neues, episches, also die Verhältnisse, in denen die Bühnenfiguren stecken, erklärendes Theater. Und holte das blutjunge Ding sofort an sein eben erst gegründetes Berliner Ensemble, das damals noch nicht im Theater am Schiffbauerdamm residierte, sondern am DT Unterschlupf gefunden hatte. Es war ein sehr schwieriger, von seinem Avantgardismus schwer überzeugter Untermieter, der nicht allein in ästhetischer Hinsicht dem Deutschen Theater entgegengesetzt arbeitete. Dort, also ganz oben im deutschen Schauspielbetrieb, hatte die erst 24jährige Käthe ihre erste Rolle: das Gustchen in der Brecht-Inszenierung von Jakob Michael Reinhold Lenz‘ Tragikomödie „Der Hofmeister“, dem Stück vom rigoros sich selbst aufgebenden Untertan. Dem folgte 1954 der Auftritt als Natalia Abaschwili in Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ unter Regie des Autors. Und da war die Reichel auch schon dessen (womöglich) letzte große Geliebte. Denn Brecht starb alsbald (1956) einen frühen Tod am letztlich auch aus politischen Gründen kranken Herzen.
Käthe Reichel betrauerte ihn ihr Leben lang. Hielt an ihm fest bis an ihr eigenes Ende, jetzt, am 19. Oktober mit 86 Jahren in ihrem Häuslein in Buckow. Also dort, in der Märkischen Schweiz am Schermützelsee, wo einst ihr Lebensglück blühte – das schmale Anwesen hatte der große Meister und Lehrer seiner geliebt gelehrigen Schülerin noch kurz vor dem Tod testamentarisch vermacht. Praktischerweise lag es unweit der beiden Villen, die Brecht und Ehefrau Weigel mit Familie den Sommer über bewohnten. In Brechts berühmten „Buckower Elegien“, die zum innigsten, berührendsten und auch schmerzlichsten gehören, was er geschrieben hat, heißt es: „Das kleine Haus unter Bäumen am See / Vom Dach steigt Rauch. / Fehlte er / Wie trostlos dann wären / Haus, Bäume und See.“
Eine ganz andere Art Testament ist ein Brief Brechts vom 8. August 1956; sechs Tage vor seinem Ende. Er richtet sich an eine hohe Behörde und war wohl – weise vorausschauend – als Gütesiegel für kommende, schwere Zeiten gedacht. Es heißt darin, Käthe Reichel sei „eine der begabtesten Schauspielerinnen des Berliner Ensembles“ und „auch in Westdeutschland sehr bekannt“.
Die zierliche, zarte, verträumte, schwärmerische und zugleich doch äußerst feste, zähe und scharfe, gewissenhaft geerdete Schauspielerin mit dem plebejischen Grundgestus (den Brecht so schätzte) spielte aber nicht nur unter Brecht am BE, sondern zugleich unter dessen Regie-Schülern, freilich bei kritischer Beobachtung des Meisters: Schon 1951 das Gretchen im „Urfaust“ (Regie: Egon Monk) sowie 1952 die Jeanne in „Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen“ (Regie: Benno Besson). Die Arbeit mit Besson setzte sie fort mit der Doppelrolle als Shen Te/Shui Ta in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“, 1957 am BE; vier Jahre danach in Stuttgart als Johanna in Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Ihre Lieblingsfigur Jeanne-Johanna erkundete sie auch in Bernard Shaws Version des Stoffs in Mannheim und Wuppertal.
Nach ihrem Wechsel ans Deutsche Theater 1961, die Intendantin Helene Weigel mochte sie nicht mehr dulden am BE, da arbeitete die Reichel mit Regisseuren wie Wolfgang Langhoff (Lessings „Minna“) oder Adolf Dresen. Und sehr viel später, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, fand sie mit Thomas Langhoff, einem der Söhne von Wolfgang L., ihren Lieblingsregisseur.
Während der eher unfreiwilligen, erst mit besagter „Lenz“-Lesung beendeten „Spielpause“ im DDR-Theater (wegen des Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung und ähnlicher Unbotmäßigkeiten) war Käthe Reichel immerhin im Defa-Kino und DDR-Fernsehen (Polizeiruf-Krimis) präsent. Den Rainer-Simon-Film „Jadup und Boel“, eine rigorose Bohrung im spätstalinistischen DDR-Beton von 1980, die Phrasen, Lügen, Erpressung und Opportunismus bloßlegte und in dem die Reichel eine tief erschütternde Nebenrolle hatte, den kassierte die SED-Zensur. Unvergesslich auch ihre abgründige Darstellung der Zuchthaus-Aufseherin Olser im Kinofilm „Die Verlobte“ (mit Jutta Wachowiak in der schmerzlichen Titelrolle als kommunistische NS-Verfolgte). Oder ihre aashaft böse Spießer-Oma in „Die Legende von Paul und Paula“. Und wiederum ihre Großmutter-Rolle – doch diesmal wunderbar schrullig-liebevoll – in dem (TV-)Kultfilm „Die Weihnachtsgans Auguste“, durchweg Star-besetzt mit Reichels Kollegen vom Deutschen Theater und gewiss – wie bislang immer zum Ausklang des Jahres – im Bälde wieder auf vielen Fernsehkanälen.
Nicht nur im Rückblick bleibt staunenswert, welch breites Spektrum von Figuren die Reichel ausfüllte und wie sie diese auch in kleinen Rollen und kurzen Auftritten groß machte durch frappierende Vielschichtigkeit. Das ihr aufgedrückte Signum Brecht-Schauspielerin verstand sie nicht als plattes, oberlehrerhaftes Vorzeigen sozialer Kontexte. Die nämlich spielte sie ganz unaufdringlich wie von selbst einfach mit – was freilich so einfach nicht geht, sondern jeweils ein eigenes und ein großes Kunststück ist, seinerseits wiederum schwer zu machen. Das Komplizierte leichthin und präzise wie aus dem Ärmel geschüttelt und einem Naturereignis gleichend, das konnte die Reichel. Sie brachte Herzig-Schmerziges und ernüchternd Trockenes, visionär Schmachtendes und alltäglich Praktisches, brachte Seelisches und Soziales spielerisch unter einen Hut. Was Brecht wie wir alle so sehr bewunderten an ihr.
Dennoch, bei aller Subtilität und Komplexität ihrer Rollengestaltungen: Käthe Reichel war immer auch eine stramm Partei ergreifende Streiterin für urkommunistische Ideale, die sie sich oft und nicht unoriginell bloß stur individualistisch zurechtgelegt hatte. Was zwar begeisterte, aber auch ziemlich unbeliebt machte; besonders bei führenden Genossen an der DDR-Spitze.
Kurz vor dem Ende der DDR rief sie auf der sagenhaften Demo vom 4. November 89 auf dem Berliner Alexanderplatz nach Freiheit und klagte wütend Bürgerrechte ein. Noch nach der Wiedervereinigung träumte sie von einer idealen DDR; dem neuen Deutschland jedoch stand sie notorisch skeptisch, plakativ kapitalismuskritisch gegenüber. Das brachte ihr allerhand Sympathie (vielleicht auch von der falschen Seite), aber noch viel mehr Widerspruch und harsche Ablehnung. Sie schwankte zwischen ehrenwert linkem Engagement und fragwürdigem politischem Sektierertum. So hungerte sie mit den um ihre Arbeitsplätze (vergeblich) kämpfenden Kali-Kumpeln von Bischofferode, machte mobil gegen Krieg und Rechtsradikalismus und stellte sich offen an die Seite der russischen Mütter, die ihre aus dem Tschetschenienkrieg desertierten Söhne versteckten. Sie war aber auch Unterstützerin des „Internationalen Komitees zur Verteidigung von Slobodan Milosevic“.
Käthe Reichel sah sich selbst immer auch als eine heilige Johanna oder (so bei Brecht) als eine Johanna Dark – und also im Recht als flammende Kämpferin gegen alles und jedes, was sie für Unrecht hielt. Und stets waltend und wandelnd im Geist von Brecht. In ihrem anrührenden Erinnerungsbuch an ihre Kindheit „Dämmerstunde“ schreibt sie: „Die Bücher dieses Dichters sind meine Bank, von der ich mir jeden Morgen meine Zinsen hole, wie andere Leute ihre Brötchen vom Bäcker.“ Dessen quälende Zweifel hat sie so mancher Einfachheit halber nur allzu gern sanft beiseite gelegt. Große Liebende zweifeln nicht. Sie lieben „so lange vom Dach steigt Rauch“.
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