15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Zwischen Arendsee und Zeitz – ohne Frühaufsteherzwang

von Kai Agthe

Mit dem Slogan „Wir stehen früher auf“ hat sich Sachsen-Anhalt keinen Gefallen getan. Auch jene, die in dem Bundesland leben, krampfen die Hände ums Lenkrad, wenn der Spruch in Gestalt des Satzes „Willkommen im Land der Frühaufsteher“ an den Landesgrenzen entlang den Autobahnen auftaucht. Die Marketingstrategen wären besser beraten, würden sie nicht auf diese Weise das Land zwischen Arendsee und Zeitz anpreisen. Mit Aufstehgepflogenheiten zu werben, ist nämlich reiner Hohn. Denn sie erklären sich mit den langen Arbeitswegen der Sachsen-Anhalter, vielleicht auch mit der Schlaflosigkeit aufgrund von Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst.
Dass Sachsen-Anhalt kein neues, sondern ein sehr altes Bundesland ist, dürfte inzwischen bekannt sein. Auch, was das 1990 aus den Bezirken Halle und Magdeburg hervorgegangene Gebilde zu bieten hat: neben mehr als tausend Jahren Geschichte eine reiche kulturelle Gegenwart.
Was aber abseits der Routen der Entdeckung harrt, stellt der Autor René Förder vor, der in Köln lebt, jedoch gebürtiger Dessauer ist. 111 Orte in Sachsen-Anhalt, die man gesehen haben muss, porträtiert er in seinem gleichnamigen Buch. Es ist der jüngste Band einer Reihe des Kölner Emons-Verlags, die deutsche Städte und Landschaften im Kurzüberblicken vorstellt.
Es geht dabei nicht primär um die Leuchttürme des Landes. Statt des Magdeburger Domes werden das Grab der Editha in diesem und die Paradiesvorhalle an diesem vorgestellt. Die 1927 eröffnete Stadthalle in der Landeshauptstadt ist für Förder interessanter als die nur unweit davon gelegene Hyparschale Ulrich Müthers. Auch in Naumburg werden nicht der Dom und die Stifterfiguren präsentiert, sondern mit den drei Elisabeth-Fenstern von Neo Rauch ein Detail desselben. Dafür hat der Autor drei Profanbauten in der Stadt und ihrer Umgebung fest im Blick: das Nietzsche-Haus und das Stadtmuseum Hohe Lilie sowie das Max-Klinger-Haus.
Richtige Entdeckungen sind so unterschiedliche Sehenswürdigkeiten wie das „Zyklon-B-Mahnmal“ in Dessau, wo im Dritten Reich das Giftgas für Vernichtungslager hergestellt wurde; die Wanderdüne in Gommern, die, bevor man Magdeburg nach 1945 wieder aufbaute, 70 Meter hoch war und heute noch 20 Meter misst; ferner die 1624 erstmals erklungene Scherer-Orgel der Kirche St. Stephan in Tangermünde. Überhaupt hat die Altmark allerlei zu bieten. Dazu zählen nicht allein die Zeugnisse der Backsteinarchitektur früherer Jahrhunderte.
Auch wenn nicht viele Deutsche auf ihre Vorfahren, die im Dritten Reich lebten, stolz sein können, der Berliner Komiker Dieter Hallervorden kann selbstbewusst auf seinen Großvater Hans Hallervorden blicken: Der Gartendirektor schützte die Synagoge im Wörlitzer Park am 10. November 1938 – einen Tag nach der Progromnacht, in auch der die Dessauer Synagoge in Flammen aufging – vor der Zerstörung durch die Nazis.
Als exotisch darf neben dem Würchwitzer Milbenkäse der Umstand gelten, dass mit Heinrich August Berger der Komponist der Nationalhymne Hawaiis aus Coswig stammte. Und mag das Dorf Fucking auch in Österreich zu finden sein, so gehört Pißdorf nach Sachsen-Anhalt.
In der Kürze, weiß der Volksmund, liegt die Würze. Die Beschreibungen der einzelnen Stationen in Sachsen-Anhalt umfassen nur eine Seite, zwingen also zu knapper Darstellung. Fakten müssen nicht nur komprimiert, sondern wollen auch humorvoll formuliert sein. Das liest sich bei René Förder oft leicht und beschwingt, ist aber bisweilen auch zu gewollt um Witz bemüht. Einige sprachliche Ungenauigkeiten fallen auf: Im Zusammenhang mit dem Massenmord an über 1.000 Häftlingen in der Isenschnibber Feldscheune nahe Gardelegen am 13. April 1945 – 24 Stunden vor dem Eintreffen der Amerikaner – heißt es, dass die KZ im Frühjahr 1945 „geschlossen“ wurden. Hier hätte es korrekt heißen müssen: „auf Todesmärsche geschickt“. Und der Havelberger Dom wurde 1170 von Bischof Anselm von Havelberg gewiss geweiht und nicht, wie etwa ein Autohaus, „eingeweiht“.
Faktisch unrichtig ist, wenn im Zusammenhang mit der Doppelkapelle auf der Neuenburg bei Freyburg gesagt wird, dass sie, die Neuenburg, „von großen Verwüstungen verschont geblieben“ sei. Wäre die Wende des Jahres 1989 nicht gekommen, würde die Neuenburg, aufgrund der Vernachlässigung und des daraus resultieren Verfalls in den siebziger und achtziger Jahren heute nicht „herrschaftliche Erhabenheit“ ausstrahlen, sondern ebenso eine Ruine sein wie die nur wenige Kilometer entfernten Festen Rudelsburg und Burg Saaleck. Die wären in dem Buch freilich ebenso gut platziert wie die als Kulisse für Historienfilme beliebte Burg Querfurt. Auch der Airpark in Merseburg und das Junkers-Museum in Dessau hätten eine Berücksichtigung durchaus verdient gehabt.
Alles in allem ist René Förder eine schöne Sammlung mit tollen Orten in Sachsen-Anhalt gelungen. Das Beste ist: Dank des Buches ist man nicht einmal gezwungen, früher aufstehen, um diese anzusehen. Wer aber durchs abwechslungsreiche Sachsen-Anhalt-Land reist, sollte das Buch als touristischen Ideen- und Ratgeber auf jeden Fall mit im Handgepäck haben.

René Förder: 111 Orte in Sachsen-Anhalt, die man gesehen haben muss, Emons Verlag, Köln 2012, 228 Seiten, 14,95 Euro