von Herbert Bertsch
Die Oktober/November kommen nicht nur „mit den üblichen Winden“, sondern aus gegebenem Anlass Jahr für Jahr auch mit einer Hausse von Spruchweisheiten. In deren Rangfolge steht immer noch obenan: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.
Und schon ist die Galerie der Erinnerung weit geöffnet: 40. Jahrestag der DDR, dabei zunächst der „Judaskuss“ (so sagt man gern vage, wenn man etwas Bestimmtes damit ausdrücken will), und dann irgendwo und irgendwann die Philippika des Gastes zu seinem Gastgeber, die in der zitierten Altersweisheit mündet.
Die Besetzung der Sprechbühne scheint bekannt. Da steht (oder sitzt) „versteinert“, was bei „history“ gern markant nachgespielt wird, Erich Honecker – ersichtlich am Ende seiner Karriere; bei gebildeten Ständen würde man sagen „seines Lateins“, das er nicht konnte, – und vor oder neben ihm Gorbatschow, in seiner vergleichsweisen Juvenilität auch äußerlich das Symbol eines neuen Aufbruchs, der zwar in der Sowjetunion nicht so richtig funktionierte, aber zu Nutz und Frommen der DDR dienen sollte. Sein Satz wurde zum Jahrhundertspruch, bejubelt und besungen – wie weitere 40 Jahre davor etwa: „Fort mit den Trümmern / und was Neues hingebaut! / Um uns selber müssen wir uns selber kümmern, / und heraus gegen uns, wer sich traut!“
Selten ist eine Persönlichkeit so mit einem einzigen Satz identifiziert und dieser hernach von vielen aus unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Gründen zur Standarte erhoben wurde – aber ohne Erkenntnisgarantie, wann genau es denn spät ist oder sein wird sowie den Irrtum eingeschlossen, der Mensch käme, vor allem politisch und gesellschaftlich, jemals an sein vorgedachtes Ziel und dann auch noch auf die vorgedachte Weise. „Dahin – wohin …“ – das ist ein weites Feld. Nichts für heute, heute nichts für mich.
Zunächst aber kam Gorbatschow am 06. Oktober 1989 hierher, und – welch Reporterglück! – nach der Kranzniederlegung an der Neuen Wache direkt auf die Kamera der ARD zu und gab spontan ein langes Statement –genau verfolgt von Aufnahmegeräten aller Art, und und deutsche Dolmetscher waren auch zugegen. Das Fazit späterer Recherche (Bei den Sachangaben und auch einigen Bewertungen stütze ich mich auf die Nachforschungen und Analyse von Ulla Plog, veröffentlicht in der FAZ vom 06.10.2004 – dort nachzulesen, weshalb hier von Zitaten weitgehend abgesehen wird.): Es gibt kein Tonband, keine Filmrolle und keine Erinnerung der Dolmetscher an einen Gorbatschowschen Satz des Wortlautes „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Nicht einmal, wenn man freieste Übersetzung von Gesagtem zubilligte. Gorbatschow hat diesen Satz bei seinem DDR-Besuch nicht gesagt. Der wurde – mit dem KPdSU-Generalsekretär durchaus als ansatzweiser Stichwortgeber – vermutlich mit journalistischer Noblesse (?), aber eben als Fehlinterpretation irgendwie „in die Welt gesetzt“, und dabei ist es geblieben. Da ging es Gorbatschow letztlich wie Luther – einmal falsch zitiert, und es gab kein Halten mehr. (Der Wittenberger Ketzer hatte auf dem Reichstag zu Worms ja auch gesagt: „Ich kann nicht anders. Hier stehe ich.“ Und nicht umgekehrt, wie man die Worte häufig wiedergegeben findet.)
Und Gorbatschow im Selbstzeugnis? Danach und in Kenntnis dessen, was sein angeblicher Satz ausgelöst haben könnte, erinnerte er sich diplomatisch „nicht mehr genau“. Das ist im Übrigen auch gar kein Wunder angesichts der Fülle all dessen, was er in der DDR zu wem auch immer und coram publico gesagt hatte. Seine Zusatzerklärung für das geflügelte Wort ist: Sein Sprecher Gerassimow habe bei einer Pressekonferenz seine, also Gorbatschows, Gedanken „zu Ende gedacht“ – mit dem Ergebnis eben jener Formulierung, die dann um die Welt ging.
Faktum bleibt, dass Gorbatschow selbst nicht die Schöpfung dieses Satzes für sich in Anspruch nimmt und überdies damit auch nicht die ihm damit zugeordnete „Funktion“, Honecker damit unmissverständlich zu Reformen in der DDR aufgefordert zu haben.
Zur Aufklärung eines anderen oder zumindest zusätzlichen Sinns verwies Ulla Plog seinerzeit auf die Rede, die Gorbatschow bei seiner Visite 1989 vor dem versammelten SED-Politbüro gehalten hatte und schrieb weiter: „Der Text seiner Rede wurde vier Jahre später veröffentlicht. Der Kreml-Chef argumentiert darin leicht philosophisch mit dem Leben, was Verspätungen bestrafe, was nicht so richtig marxistisch war im Sinne des Vollzugs der Geschichte, aber sehr diplomatisch, und verband das ganze mit einer Selbstkritik. Wir haben in der Sowjetunion die gleichen Probleme.“ (Hervorhebung – H.B.) Dazu passt auch Gerassimows spätere Erklärung zu seinen Antworten auf Journalistenfragen während der bereits erwähnten Pressekonferenz: „Wir sprachen über unsere eigenen Erfahrungen (Hervorhebung – H.B.). Aber Journalisten interpretieren die Dinge.“
Die Interpretation, dass Gorbatschow mit seinem Satz demonstrativ in die Angelegenheiten der DDR zugunsten von Oppositionellen habe eingreifen wollte, wurde zur gängigen Lesart, zumal er sich zu keinem Zeitpunkt nachdrücklich gegen den immer aufs Neue beschriebenen Erfolg „seines“ Spruchs wehrte. Wer ist nicht gern Vater von Erfolgen?
In dem Dokumentarfilm „Der traurige Held der Perestroika“ von dem Russland-Experten Ignaz Lozo (Erstausstrahlung 2010) wurde ebenfalls bestätigt, dass sich die Berliner Äußerungen von 1989 „nicht auf Honecker beziehungsweise die DDR, sondern auf die Genossen daheim in der Sowjetunion“ bezogen.
Möglicherweise hat Gorbatschow den DDR-Besuch damals also bewusst genutzt, um im Ausland und damit weniger gefährdet seinen Genossen ins Gewissen zu reden, als er es zu Hause gekonnt hat. Das wäre eine weitere Facette im Reigen der Nutzungsmöglichkeiten, die die DDR der jeweiligen Führung der Sowjetunion bot. Bei Glück für die DDR waren die beiderseitigen Interessen in solchen Fällen gleichgerichtet. Once and for all aber war ein ständiger Vorrat an Glück selbst für die größte DDR der Welt nicht vorgesehen.
Die wahre Geschichte des legendären Satzes macht Gorbatschows Lebensbilanz letztlich um ein weitere tragikonische Nuance reicher: Er hat hier in Berlin mit der DDR als Ansprechwand Empfehlungen aus den aktuellen Erfahrungen seines Landes für sein Land ausgesprochen, die dazu führten, dass er heute dort auf keinem Sockel steht.
Vielleicht tröstet sich Gorbatschow – zumindest, was die hartnäckige Lebensenergie nicht oder nicht so gesagter Zitate anbetrifft – außer mit Luther ja auch mit Adenauer: „Wat kümmert mich ming Jeschwätz von jestern?“, soll der Alte auf gut Kölsch gesagt haben, was mit: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ recht gut ins Hochdeutsche übertragen und im Übrigen auch ein geflügeltes Wort ist. Nur – bei Adenauer, der als erster westdeutscher Bundeskanzler nach dieser Devise trefflich handelte, weswegen ihm dies nachzusagen sachlich durchaus gerechtfertigt wäre, ist der Spruch trotz intensiver Suche bis heute nicht nachweisbar. Protestiert hat der alte Rheinländer dagegen zu Lebzeiten nicht; der Spruch wurde von ihm offenbar nicht als Ehrabschneidung empfunden. Wie Gorbatschow später, hat er die Zuschreibung sozusagen „inhaliert“ und für sich angenommen.
Nachweisbar allerdings, jedenfalls von Adenauer autorisiert, ist hingegen ein anderer Satz, der das Zeug dazu hätte, den ersteren, wäre er diesem unmittelbar vorangegangen, zu adeln: „Es kann mich doch niemand hindern, jeden Tag klüger zu werden.“ So in Paul Weymar’s Adenauerbiographie von 1955.
Und das Fazit: Selbst die fest gefügteste „Wahrheit“ – die in diesem Range steht, weil sie immer schon so berichtet worden ist – erzählt womöglich eine ganz andere Geschichte, wenn man ihr auf den Grund geht. Was vielleicht dort besonders lohnt, wo etwas als unumstößlich gilt.
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