von Sem Pflaumenfeld
Den ersten Auslandsgesandten Japans waren die Fremdlinge suspekt. Ein kaiserlicher Prinz kommentierte bereits auf einer der ersten Reisen in die USA 1860, dass „oben“ und „unten“ sich vermischen und nicht ihren rechten Platz kennen würden. Nun mag seine Einschätzung angesichts einer Klassengesellschaft wie der britischen, die die Japaner erst 1863 besuchten, nicht unseren Kenntnissen des viktorianischen Zeitalters entsprechen. Wir haben Dickens auch anders gelesen, aber ganz Unrecht hatte der Reisende nicht. Schnell wurde nach der Einführung der Kutsche und der Eisenbahn klar, dass es auch in Japan schwierig werden würde, die Begegnung mit Standeshöheren in der Öffentlichkeit mit dem Wurf in den Staub zu untermalen. Das hätte angesichts der Geschwindigkeit der Verkehrsmittel zu einem unlösbaren gesellschaftlichen Problem werden können. Menschen sollen die Eisenbahn als Verlängerung der eigenen Unterkunft betrachtet haben. Das mag der Auslöser für die Legende gewesen sein, dass japanische Menschen vor dem Einstieg die Schuhe an der Tür auszogen. Am Zielort wunderten sie sich dann, warum ihnen diese nicht angemessen umgedreht wieder zur Verfügung gestellt worden waren. Die Qualität des Services schien mit dem Kontakt zum Westen rapide abzunehmen. Es ist also kein Wunder, dass es einige Menschen in Japan gab, die andere Länder für barbarisch hielten. Wir nennen sie konservativ; sie hatten ihre Befürchtungen, welches Chaos die fremden Ideen verursachen würden.
Die Textilindustrie hatte erst einmal unter den neuen Eindrücken zu leiden. Mit dem Umzug des Tennô nach Tôkyô kam die Seidenproduktion in der alten Hauptstadt Kyôto fast zum Erliegen. Einzelne Familien schickten also ihre Söhne in die Textilhochburgen Frankreich und England, um Webtechniken, Stoffarten, Farben und Formen zu studieren. Die erste Mission nach dem Machtwechsel und dem kaiserlichen Umzug führte in einer Rundreise 1871 bis 1873 in die Industriestätten der USA und Europas. Die Diplomaten erkannten, dass sie sich den Gewohnheiten ihrer Gastgeberländer anpassen mussten. Und so trugen sie bald Gehrock und Schnurrbart. Der mechanische Webstuhl, den sich Söhne einflussreicher Kyôtoer Familien der Seidenherstellung in Lyon hatten zeigen lassen, sollte Japan dabei helfen.
Der Kaiser brauchte ebenso neue Kleider. Denn er sollte eine öffentliche Figur eines modernen Staates werden, der sich nicht zu verstecken brauchte. Ähnlich wie wohl die erste Ansprache eines Tennô an sein Volk am 15. August 1945 über Lautsprecher und Radio Entsetzen und Erstaunen hervorrief, mussten die Fotografien in den Zeitungen und die öffentlichen Auftritte des Kaisers Meiji (regierte 1868-1912) gewirkt haben. Da auch der Wurf in den Staub nicht mehr als modern und schicklich galt, mussten diejenigen, die etwas auf sich hielten, umso mehr dem kritischen Auge der Bevölkerung standhalten. Zuvor war es vor allem die eigene Klasse gewesen, die über das Fehlen von Geschmack und von Anstand bei der Kleiderwahl urteilte. Nun war es die lästernde Masse. Moralphilosophen, die vor der Öffnung in Richtung Westen über die Unsitten der Klassenvermischung geschimpft hatten, sollten auch hierbei ihre Chance bekommen. Denn wieder gaben die Geisha den Ton in der Mode an. Sie waren es, die schon recht früh vor allem für ihre japanischen Gäste Korsett, Turnüren und Schnürstiefel trugen. Einige, wie die berühmte Sadayakko (1871-1946), sollen sogar im Damensattel durch die Vergnügungsviertel Tôkyôs geritten sein. Nur in den Pavillons der Weltausstellungen seit 1867 wurden die Frauen eher in traditioneller Kleidung gesehen. So mussten sich sechs Geisha aus dem Shimbashi Teehaus- und Geishaviertel, Tôkyô, 1900 bei der Weltausstellung in Paris an den Frisuren und an den Kimonos berühren lassen. Das europäische Publikum wollte die wahre japanische Frau sehen und sogar anfassen. Deswegen waren die Kritiken über die Soirées in der Rokumeikan („Halle des röhrenden Hirschen“) gerade der nicht-japanischen Beobachter vernichtend. Die Halle nach Plänen von Josiah Conder war als Gästehaus für ausländische Diplomaten 1883 eröffnet worden. Sie sollte einen zivilisierten Flair verbreiten und ausländischen Diplomaten zeigen, dass die Ungleichen Verträge einem Land wie Japan gegenüber unangemessen waren. Pierre Loti, der gekommen war, um Madame Chrysanthème zu schreiben, verglich die Veranstaltungen mit Affenschauen. Jedoch auch in Japan selbst wurden die Tanzabende in Abendkleid und Frack, an denen Frauen und Männer sich berührten, argwöhnisch beäugt. So altmodisch die als traditionell angesehene japanische Kleidung gerade bei dem neuen Bürgertum gewesen war, so schnell kam sie auch wieder in Mode. Die Rokumeikan hatte ihr Ziel verfehlt und wurde schnell aufgegeben. Die Skandale um heimliche und unzüchtige Treffen sind in den Legendenschatz über das ausgehende 19. Jahrhundert eingegangen, gehörten jedoch damals schon in das Reich der Fiktion.
Nach den Siegen über China und Russland kam der Westen aus der Mode. Überhaupt hatte sich die Kleidung vor allem der Oberschicht und des Bürgertum gewandelt; auf dem Land und in der Unterschicht hatten sich die Menschen schon vorher weniger um die wechselnden Trends gekümmert, weil sie für sie weder relevant noch bezahlbar gewesen waren. Die großen Kaufhäuser in Tôkyô wie Mitsukoshi und Takashimaya, die bereits dem Bürgertum der Vormoderne die Stoffe und Dinge für das tägliche Leben verkauft hatten, boten Kimono für jeden Geldbeutel. Sie arbeiteten für die höherpreisigen sogar mit Künstlern zusammen, um mit dem Geschmack und der Zeit zu gehen.
Der erste Weltkrieg und seine Folgen sollten für Japan auch die Kleidung demokratisieren. Die Röcke wurden kürzer sowie die Haare. Das moga oder der mobo – modern girl und modern boy – wollten Bein und vor allem sich selbst zeigen. Die wilden Zwanziger brachten neue Berufsmöglichkeiten gerade für Frauen außerhalb des Hauses, weswegen viele den Kimono ablegten. Kleidung war ein Thema in den neuen Frauenzeitschriften. Der meisen-Kimono war der erste von der Stange und deswegen für viele erschwinglich. Quadratische Formen und Muster des art déco wurden modern. Das Kantôerdbeben am 1. September 1923 hatte die Versorgung der Hauptstadt mit dem Allernötigsten erschwert. In Tôkyô waren über 30.000 Menschen ums Leben gekommen, als sie sich in ein Kleiderdepot des Militärs flüchten wollten und dort vom Feuersturm eingeschlossen wurden. Die Aufbauarbeiten in der Hauptstadt und in Yokohama gingen schnell voran, doch die Versorgungssituation blieb lange prekär. So kamen Dinge in Mode, die schnell hergestellt werden konnten.
Um 1937 trugen 39 Prozent der arbeitenden Frauen westliche Kleidung. Zu dieser Zeit soll jede Frau nach Angaben des Ministeriums für Kultur und Industrie 40 Kleider besessen haben. Das war eine solche Dekadenz, dass sich der Minister zu klagen genötigt sah, dass ein Kleiderschrank einer Japanerin das Kaiserreich davon abhielt, 5390 Panzer und 500 Flugzeuge an die Front zu schicken. Wir können davon ausgehen, dass sich der Mann die Kosten für Kleidung nicht von seiner Frau hatte vorrechnen lassen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass die japanische Frau im Allgemeinen für den Frieden einkaufen ging. Die Textilproduktion war nämlich einer der Gründe, warum sich Japan in imperialistischer Tradition nach China wandte, um es für Absatzmärkte und Zugang zu Rohstoffen zu überfallen.
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