15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Der dritte Weg – Vitasoziale Marktwirtschaft*

von Gerhard Burow

Die Verteilungsverhältnisse im Kapitalismus – und auch im untergegangenen Sozialismus war dies der Fall – regeln sich über die Verwandlung von Geld in Kapital und die Aneignung des Gewinnes aus Marktprozessen. So entstehen Einkommen für Konsumzwecke und Investitionen in die Wirtschaft. Es muss also erst einmal Arbeit geleistet sein, deren Ergebnisse Erlöse am Markt bringen, damit private und gewerbliche Ein­kommensbildung möglich wird. Die Zielfunktion einer Volkswirtschaft liegt hier in der Gewinnmaxi­mierung zu privaten Aneignungszwecken (Kapitalismus). Umverteilungsprozesse über Steuern ge­währleisten dann Einkom­mensbildung im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich. Die Eigentums­verhältnisse an Produktions­mitteln spielen für die Gewinnverteilung eine prägende Rolle.
Wenn nun dieses kapitalistische Markt­system wegen der Dominanz der Finanzindustrie in der Zirku­lationssphäre zu implodieren droh, stellt sich die Frage nach einer Alter­native. Ein „Dritter Weg“ kann dabei nicht auf den Verteilungsverhältnissen des Kapitalismus oder Sozialismus beruhen, da beiden systemische Kollapsrisiken inhärent sind.
Die von mir entworfene „Vitasoziale Marktwirtschaft“ soll der dritte Weg sein. Wie sieht der also aus? Zunächst ist die volkswirtschaftliche Zielfunktion neu zu definieren. Sie soll in der Einkommenssiche­rung nach dem Gemeinwohlprinzip liegen. Die Deckung des realwirtschaftlich begründeten Bedarfes der Bevölkerung ist dabei das Marktkriterium. Das Grundprinzip der Marktwirtschaft ändert sich folglich nicht. Anders sind aber die Verteilungsverhältnisse. Sie basieren nicht mehr auf der Transformation von Geld in Kapital. Demzufolge begründet sich Einkommensbildung auch nicht aus Umschlags­pro­zessen von Waren und Dienstleistungen am Markt. Wenn Arbeit verausgabt wurde, ist nicht erst abzuwarten, inwieweit ihre Ergebnisse über den Markt Einkommen zulassen beziehungsweise mittels Kredite vorfinanziert werden müssen. Nachgefragte und geleistete gesellschaftlich nützliche Arbeit führt in jedem Fall zu eintaxiertemEinkommen. Die Einkommensbildung leitet sich demzufolge nicht mehr aus ökono­mischen Rentabilitäten ab, sondern aus den Aufgaben und Erfordernissen einer arbeitsteilig organi­sierten Menschheit. Diese sind zu erfüllen. Dazu gründen Menschen Firmen oder beteiligen sich an deren Teams, leisten kulturelle, geistig-schöpferi­sche Arbeit, bilden junge Menschen aus, arbeiten im Gesundheits- und Sozialwesen, übernehmen Erziehungstätigkeiten im Haushalt, kurz, suchen sich entsprechend ihrer Begabung und ihrer Fertig­keiten Tätigkeiten aus, die gesellschaftlich nützlich sind. Daraus leiten sich entsprechend der Arbeitsqualität und dem Engagement die Eintaxierungen und somit der individuelle Wohlstand ab. Die heute geltende „links steile“ Einkommensverteilung in der Gesellschaft – Ergebnis systemischer Verzerrungen in den Verteilungs­prozessen – wird damit überwunden.
Entlohnte Arbeit muss aus dem Reproduktionsprozess der Gesellschaft nachgefragt sein. Aufgaben­felder ergeben sich im gesamten Spektrum des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Sicherung der menschlichen Lebensbasis, aber auch aus der notwendigen Expansion in den Weltraum zur Sicherung und Erschließung von Energie- und Rohstoffquellen.
Wenn Geld kein Kapital werden kann, sind alle Aufgabenfelder unabhängig von Renditeaspekten praktisch gleichzeitig möglich. Dazu ist lediglich das Aufgabenspektrum der Banken zu modifizieren. Sie vergeben Investi­tionsgelder in beantragter Höhe nach Prüfung gesellschaftlicher, also inklusive ökologischer Effizienzkriterien. Erstmalig gelingt es so, Naturverbrauch über Preise am Markt unmittelbar zu steuern. Aus Bedingungen der Zirkula­tionssphäre (Zins- und Zinseszins) resultiert kein künstlicher Wachstumszwang mehr. Der Bedarf der Menschen und die realwirt­schaftlichen Deckungsmöglichkeiten bestimmen das volks­wirtschaftliche Wachstum auf der Erde. Nur die Ausnut­zung der kreativen Intelligenz der Menschheit insgesamt schafft potenzielle Überlebensfähigkeit der Spezies „Homo sapiens sapiens“.
Wenn also Menschen Aufgaben für sich entdecken, haben sie sich dafür zu qualifizieren, die Lösung der Aufgaben zu organisieren und eine nachhaltige Wirkung der Aufgabenfelder zu gewährleisten. Dazu werden die finanziellen Mittle in jeder Höhe garantiert und die entsprechenden Einkommen bereitgestellt. In den Unternehmen sind die Einkommensprozesse ausgelagert, die Finanzierungs­kosten beseitigt, Fremdkapital eliminiert und der Einsatz eigenen Geldes überflüssig geworden. Die Rolle der Banken ist wieder auf die Dienstleistungsfunktion der Zirkulationsebene zurückgeführt, menschliche Arbeit ist keine Ware mehr und dem Giersyndrom des Geldes ist die sozio-ökonomische Basis genommen.
Die Vitasoziale Marktwirtschaft ist prinzipiell ein global angelegtes Gesellschaftsmodell und überwindet die na­tionalstaatlichen Schranken der Ökonomie und des Zu­sammenlebens. Sie ist die theo­retische Basis einer weltweit arbeitsteilig verbundenen Menschheit, denn sie umreißt die Bedingungen für Einkommen aus Arbeit, für Wohlstand aus Qualifikation und Leis­tung, für gerechte Ressourcen­erschließung und Umverteilung sowie erhebt Verantwortung für die Ökologie des Planeten zu einer zentralen Kategorie. Dadurch wird es möglich, weltweit Arbeitsaufgaben oder Probleme frei von finanziellen Rahmen­bedingungen anzugehen und im Gegenzug dafür gesicherte Einkommens­bildung zu ermöglichen. Das führt schafft die Grundlage für ein neues kulturelles Bewusstsein, für Toleranz unter eth­nischen Schichten und Verständnis für die Traditionen der Völker, da alle aus ihrem Wirken heraus als Be­standteil der globalen gesellschaftlichen Arbeitsteilung begriffen werden.
Wahrscheinlich kann die Transformation in die Vitasoziale Markt­wirtschaft zunächst in den entwickel­ten Industriestaaten erfolgen, da sich hier die Transfor­mationsbedingungen am wirksamsten entfalten. Zug um Zug ziehen alle Staaten der Erde nach, da sowohl die existierenden sozialen Proble­me praktisch sofort verschwinden, Arbeits­losigkeit über­wunden werden kann und gemeinwohlorientierte Initiativen unmittelbar den Lebensstan­dard spürbar heben werden. Obwohl keine revolutionäre Situation vonnöten ist, da Eigentums­verhältnisse nicht betroffen sind, muss jedoch eine rigorose Umstrukturierung der Zirkulations­sphäre erfolgen. Die Akzeptanz dafür wächst, je mehr die heutige Finanzindustrie die Staaten der Erde an den Rand des volkswirtschaftlichen Abgrunds treibt.
Bei alldem ist die Vita­soziale Markt­wirtschaft kein Dogma – permanente Ausgestal­tungsfähigkeit ist geradezu ihr Credo, damit die gesamte Vielfalt lokaler, regionaler oder nationaler Ideen ein zukunftsträch­tiges, globales Gesellschaftsmodell hervor­bringen kann.
Die Idee dieser der Natur nachempfundenen Gesell­schaft ist als Alternative zum Kapitalismus zu popularisieren. Ihr einfaches Handling und ihr hoher Identifikationsgrad in der Bevölkerung wegen der gesicherten Einkommensbildung werden die globale Umsetzung befördern.

* – Teil 1 und 2 dieses Beitrages wurden in den Ausgaben und 16 und 19/2012 publiziert. Ausführlicher siehe G. Burow: Vitasoziale Marktwirtschaft: Ein gemeinwohlbasiertes Gesellschaftsmodell, Monsenstein und Vannerdat, Münster 2012, 161 Seiten, 10,50 Euro.