15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Antifritz

von Lutz Unterseher

Friedrich II. gilt als eine der bedeutendsten Figuren der preußischen Geschichte – bewundert von vielen, kritisiert von wenigen und des Mitgefühls aller gewiss.
Bewundert wird er als Multitalent – Philosoph, Feldherr, aufgeklärter Herrscher, Musikant und Hundezüchter. Sowie als Stehaufmännchen, wegen seines zähen Durchhaltens nach verlorenen Schlachten. Doch erinnern wir uns auch an den Spott seiner Zeitgenossen: Für Philosophen ein großer Feldherr, für Militärs ein großer Philosoph. Zudem war Friedrich II (im weiteren: Fritz) ein menschenverachtender Griesgram – mit kleinlichstem Regierungsstil. Aber auch Mitgefühl wird ihm zuteil, nämlich weil ihn sein Papa kujonierte und als Fahnenflüchtigen beinahe hatte köpfen lassen.
Über das Brimborium im 300. Geburtsjahr geriet einmal mehr in Vergessenheit, dass Fritz einen Bruder hatte, den dritten Sohn Friedrich Wilhelms I. und in vieler Hinsicht sympathischer: Prinz Heinrich (nachfolgend: Heinz).
Beide lassen sich miteinander vergleichen. Zunächst die Gemeinsamkeiten: Sie zogen französische Sprache und Kultur der deutschen vor. Beide waren von der Muse geküsst und im Übrigen schwul. Heinz praktizierte dies unverklemmter als Fritz (als hätte er Pausenclown Wowereits outing vorweg nehmen wollen). Geht uns das etwas an? Ja, weil die Eifersucht zwischen beiden, vor allem die von Fritz gegenüber Heinz, durch die erotische Komponente eine tiefere Dimension erhielt. Zunächst ging es vielleicht um den Ärger, wenn einer dem anderen einen strammen Reitersmann ausspannte, dann aber um viel mehr.
Doch nun zu den Unterschieden! Heinz war noch kleiner und hässlicher als Fritz. Seine lange Nase endete in einer drolligen Knolle. Im Alter wurde er, ob einer etwas verqueren Augenstellung, immer mehr zum Vorläufer Marty Feldmans. Doch: Während Fritzens Uniform in den späteren Jahren Tabaksflecken und Essensreste zierten, kam Heinz immer picobello daher. Fritz aß wie ein Schwein (verzeiht liebe Mitsäuger!), Heinz hatte Manieren.
Zwar waren beide von der Muse geküsst, aber mit unterschiedlichem Effekt: Während Fritz Flöte spielte, in intimer Runde von Herrn Bach begleitet, sowie Salonmusik komponierte, hatte es Heinz mit Theater und Oper. Er schrieb Libretti und sprang mitunter für verhinderte Schauspieler ein. Er fand es wunderbar, ein Publikum amüsieren zu können, und erbaute in Rheinsberg, seinem Refugium, ein kleines Operntheater, das bald als eine der ersten Bühnen Europas galt. Er organisierte auch gern Hochzeiten mit Singspiel, sowohl für den Landadel als auch für arme Bauern (die er generös unterstützte), um sich dabei künstlerisch produzieren zu können.
Während Fritz sich als Politphilosoph gab – als Kronprinz schrieb er einen „Antimachiavell“ gegen hemmungslose Machtgier, den er, an die Regierung gelangt, durch einen Überfall auf österreichisches Gebiet sofort verriet, – beschränkte sich Heinz darauf, luzide Analysen der militärisch-politischen Konstellation zu liefern.
Fritz führte Raubkrieg und Krieg zur Sicherung der Beute: den Ersten und den Zweiten Schlesischen sowie den Siebenjährigen. Er spielte Vabanque und hätte im Siebenjährigen Krieg beinahe ganz Preußen verloren. Dass er am Ende mit der Beute davon kam, war nicht sein Verdienst, sondern dem Allmächtigen geschuldet, der die Zarin Elisabeth, Fritzens Feindin, zu sich rief.
Heinz opponierte gegen diese Kriege und beschuldigte seinen Bruder, ein Massenmörder zu sein. Der durch ihn verursachte Siebenjährige Krieg habe insgesamt 400.000 Menschen das Leben gekostet.
War der Krieg aber einmal angezettelt, gab es niemanden, der loyaler, tapferer und strategisch klüger gewesen wäre als Heinz. In der Schlacht bei Prag, die Fritz wegen der Fehler eines Günstlings beinahe verloren hätte, sicherte Heinz seinem Bruder den Sieg, als er, mit dem Degen in der Hand, mit seinen Grenadieren eine feindliche Geschützbatterie stürmte. Ähnliche Geschichten über Fritz gehören ins Reich der Legende.
Mit Fortgang des Siebenjährigen Krieges vertraute Fritz, in einem seltenen Moment der Einsicht, seinem Bruder die – kleinere – Hälfte der Armee an. Dieser verteidigte Preußen gegen Reichsarmee und Franzosen. Er manövrierte so geschickt, dass die Gegner immer wieder ins Aus gerieten. Er liebte keine Schlachten. Wenn er aber schlug, dann fast immer aus der Defensive – um ausnahmslos zu siegen. Damit hielt er seinem Bruder, der wie ein Wahnsinniger gegen Russen und Österreicher die Schlacht suchte, und dabei jede zweite verlor, den königlichen Hintern frei. Am Ende musste Fritz zugeben: „Mein Herr Bruder macht keine Fehler.“
Die Kriegskasse war erschöpft. Die Truppen mussten aus besetztem Lande leben. Fritz ließ plündern. Heinz ließ Soldaten, die dabei erwischt wurden, erschießen. Sein Regime auf fremdem Gebiet war milde, auf Kooperation mit den örtlichen Eliten bedacht – die ihn bald mehr schätzten als ihre frühere Herrschaft. Damit gewann er für Preußen mehr Ressourcen als Fritz auf die harte Tour.
Als es nach dem großen Krieg um Wiederaufbau ging, agierte Fritz zwar mit Sachverstand und Energie, aber auch mit willkürlicher Einmischung, die der Rationalität preußischer Verwaltung, einer Kreation von Fritzens Vater, zuwider lief und den Kadavergehorsam stärkte.
Heinz, auf bescheidenerer Ebene, entwickelte und mehrte seine Ländereien auf Grundlage klarer Weisungen und einer von Vertrauen geleiteten Delegationspraxis.
International galt er als der eigentliche Kriegsheld Preußens, als der führende Stratege Europas, dem zugleich zugetraut wurde, Frieden machen und erhalten zu können. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er als Vermittler, etwa beim Aushandeln von Friedensverträgen, sehr gefragt. Vertreter des polnischen Adels ließen in Berlin anfragen, ob er als König von Polen zur Verfügung stünde. Dies vermieste Fritz seinem Bruder. So ließ sich das Drama, das zur Teilung Polens führte, nicht mehr aufhalten.
Fritz starb 1786. Heinz, der Jüngere, hatte noch 16 Jahre vor sich. In diese Zeit fiel die Französische Revolution, deren Verlauf er gespannt verfolgte. In Berlin nannte man ihn nun den „Jakobiner von Rheinsberg“. Heinz hatte schon vor der Revolution dem Absolutismus misstraut, fand er doch das Regiment des Bruders hoch problematisch. Er hatte die Vorteile einer konstitutionellen Monarchie erkannt. Wenn er aber vor die Wahl nur zwischen dem Absolutismus und einer Republik gestellt worden wäre, hätte er sicherlich letztere bevorzugt. Dazu passt: Während Fritz sich selbst zum „Großen“ hatte ausrufen lassen, wollte Heinz nur als „Menschenfreund“ in Erinnerung bleiben.
Gestatten wir uns zum Schluss ein pietätloses Gedankenexperiment! Friedrich Wilhelm I. lässt Fritz einen Kopf kürzer machen. Er folgt damit dem Beispiel Peters I., dessen Sohn Alexej ebenfalls gezielt ums Leben gebracht wurde. Beide hatten Grund, um ihr reformerisches Erbe zu fürchten: Alexej war ein religiöser Spinner, der junge Fritz ein eitler Modefant ohne Sinn für Politik. Kronprinz wird daher August Wilhelm (hier: Auwi), der zweite Sohn Friedrich Wilhelm I.. Auwi ist ein guter Soldat, ein friedlicher Mensch und liebevoller Familienvater. (Kurze Abschweifung zurück zur tatsächlichen Historie: Fritz trieb Auwi in den Tod, als er ihn eines militärischen Fehlers bezichtigte, den er eigentlich selbst zu verantworten hatte.) Heinz ist Auwis bester Freund und Ratgeber. Als dieser auf den Thron gelangt, gibt es keine Raubkriege. Preußen kann sich mit der Perspektive politischer Stabilität glücklich entwickeln. Auch Auwi führt (wie Fritz) von der Aufklärung inspirierte Reformen durch, etwa die Abschaffung der Folter. Last, but not least: Außenpolitisch orientiert sich Preußen eher an Frankreich und seinen freiheitlichen Terndenzen als an den konservativen Mächten Russland und Österreich. So hätte es sein können …
Für mich ist Heinz der einzige bedeutende Preuße, den ich vorbehaltlos akzeptiere – vielleicht aber doch auch Prinz Louis (Ferdinand): Frühvollendeter, Herzensbruder Rahel Levins, Saufkumpan Goethes, von Ludwig van Beethoven als Komponist geachtet und Lieblingsneffe … ja, wessen Lieblingsneffe wohl?