15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Zu Unrecht vergessen: der (Anti-)Kriegs-Roman „Hinter Gottes Rücken“

Zum 100. Geburtstag von Bastian Müller

von Helmut Donat

Auch der Schriftsteller Bastian Müller war überzeugt, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges „der Sozialismus siegen wird.“ Doch schon bald sah er sich enttäuscht. Die Nazis waren zwar weg, aber nicht die Mentalität, auf der ihre Macht beruht hatte. Zunächst wollte die Mehrheit der Deutschen keine Waffe mehr in die Hand nehmen, aber spätestens seit 1950 bereiteten führende Kreise in Politik, Wirtschaft und Militär die Wiederbewaffnung vor.
Bastian Müller gehört zu den deutschen Autoren, die sich in den ersten Jahren nach 1945 an der heute weitgehend unbekannten Debatte um die Schuldfrage und den daraus zu ziehenden Konsequenzen beteiligte. 1947 erschien sein Roman „Hinter Gottes Rücken“, der im August 1949 seine vierte Auflage erreichte – bis dahin der bedeutendste deutsche Nachkriegsroman und in einer Zeit der Papierknappheit, der Niedergeschlagenheit und des Überlebenskampfes geradezu ein Wunder. Das Buch erzählt, wie Wilhelm, die Hauptfigur, zu Beginn des Krieges schwört, nie einen anderen Menschen zu töten, und wie ihm das gelingt. Nicht viele seines Jahrganges haben das geschafft oder sich darüber überhaupt Gedanken gemacht. Die außergewöhnliche pazifistische Grundhaltung des „Helden“ entspricht der des Autors. Der Roman weist so viele autobiografische Züge auf, dass man von einer authentisch erzählten Geschichte sprechen muss.
Bastian Müller, am 22. August 1912 in dem Dorf Bürrig geboren, heute ein Stadtteil von Leverkusen, stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war Stellmacher, seine Mutter betrieb nebenher eine kleine Landwirtschaft, er selbst hütete nach der Schule Ziegen. Mit 14 Jahren verließ er das Elternhaus, wollte unabhängig sein, die Welt sehen, besuchte für ein Jahr eine Siedlerschule, entschied sich dann aber für eine Maurerlehre – aus, wie er später erklärte, „Ratlosigkeit und Protest gegen die im Sterben liegende Scheinwelt des Spießers“. Für einige Jahre ging er mit seinem älteren Bruder, einem Absolventen der Düsseldorfer Kunstakademie, auf Tour. Sie hielten sich in Paris auf, wo Bastian sich als Zeitungsverkäufer durchschlug und Freundschaft mit dem afroamerikanischen Dichter Countee Cullen schloss, in Nizza und Cannes, wo er 1930 Ernest Hemingway begegnete, in dem Malerort Cagnes-sur Mer sowie in Neapel und auf Capri. 1934 bis 1939 lebte Müller in dem Künstlerdorf Worpswede bei Bremen. Mit Kurzgeschichten begann er hier seine schriftstellerische Karriere. Der hoch aufgeschossene, stille und in sich gekehrte Mann fiel sogleich auf, beeindruckte durch seinen Wortschatz und Stil, seine Belesenheit und sein großes Wissen. Propagandaminister Goebbels’ Angebot, ihn zu fördern, lehnte Müller ab. Er wollte mit den Nazis nichts zu tun haben – und fand dennoch sein Publikum, veröffentlichte Romane, Novellen, Erzählungen und Artikel, ließ dabei NS-Werte wie Mutterschaft, Bauerntum, Rassenideologie oder Heldentum außer Acht. Schließlich zweifelten die Nazis seine politische Zuverlässigkeit an. Er gehörte keiner Parteigliederung an, ignorierte politische Veranstaltungen und vermied den „deutschen Gruß“. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges befand er sich mit seiner Frau auf der Halbinsel Nidden in Ostpreußen, dem Ziel ihrer Hochzeitsreise. Hals über Kopf reiste das Paar nach Berlin, hielt sich einige Monate in der Reichshauptstadt auf und siedelte sich danach in Gstad am Chiemsee an. Aufgrund der Folgen einer schweren Blinddarmoperation blieb Müller zunächst vom Krieg verschont. Ab 1941 musste er jedoch als „verwendungsfähiger Soldat“ Transporte mit Wehrmachtskleidung in entlegene Frontabschnitte begleiten. Als ihm 1944 die Ostfront drohte, kam er durch Zuspruch eines höheren Militärs bei der Filmgesellschaft „Tobis“ als Dramaturg unter, hielt aber nichts davon, dem Volk „Sand in die Augen zu streuen“. Im August 1944, als jeder, der irgend noch tauglich war, zum „totalen Krieg“ oder zu Rüstungsarbeiten eingezogen wurde, wählte Müller den „Schutz vor dem Militär“. Sein neuer Chef stellte ihn für „Sonderaufgaben“ ein und dachte mit ihm, den Vormarsch der Roten Armee vor Augen, darüber nach, was in seinem Betrieb zu tun sei, um den Krieg abzukürzen und unbeschadet zu überleben. Mit dem Argument „Kriegsentscheidender Betrieb“ und einer gehörigen Kaltschnäuzigkeit gegenüber dem NS-Parteiapparat gelang es ihnen, die deutschen Arbeiter des Unternehmens vor der Front und die russischen Zwangsarbeiter vor dem Tod zu bewahren.
Ein verrücktes, ein ungewöhnliches Schicksal. Ebenso ungewöhnlich wie Bastian Müllers Roman, in dem er seinen Weg durch den Krieg, den er hasste, nachzeichnet und seinen Protagonisten bekennen lässt: „Ich bin Obergefreiter der glorreichen Armee. Aber ich habe mich bis jetzt erfolgreich vor der Front gedrückt. Ich denke nicht daran, für diese Sache zu sterben, auch nicht für Ehre und aus Pflicht. Ich möchte diesen Krieg und diesen Staat überleben und nachher dabei sein.“ So weit, so gut. Doch nach dem Krieg gerät Wilhelm in eine „neue Ratlosigkeit“ und beobachtet, wie viele offenbar „noch nicht begriffen … haben, dass wir nach dem Kriege leben und keinen Grund mehr haben, stolz zu sein auf das, was uns früher über alles in der Welt erheben sollte.“
Kaum erschienen, entbrannte um Müllers Roman ein heftiger Streit. Begeisterung stritt gegen Abscheu. Max Krell, der als Lektor bei Ullstein 1929 mit Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen größten Erfolg erzielte, urteilte: „Das Buch ist viel maskenloser als ‚Im Westen nichts Neues’, wo die Existenzen noch durch die Uniform zusammengehalten wurden. … Hier aber weht ein schauriger Gräberwind. Diese Unterwelt hat Remarque noch gar nicht gekannt … Die Schonungslosigkeit, die Bastian Müller auch sich selbst gegenüber übt, gibt ihm das volle Recht zu sagen, was er sah und empfand. Gäbe es noch den Propyläenverlag und die Ullsteinmittel, so würde ich alles daran setzen, diesem Buche einen großen Erfolg zu verschaffen. Ich würde alle Gegner herausfordern, damit sich die heilsame Debatte daran entzündet und sich so ein – neben dem buchhändlerischen – vor allem ein moralischer Erfolg einstellte. Denn das Buch ist besser als das Remarques. Das Thema liegt tiefer, das Gewollte ist stärker, das Erreichte bitterer, aber notwendiger.“
Infolge des sich seit 1949/50 durchsetzenden Willens, alle Schuld von sich abzuschütteln und sich von ihr freizusprechen, gerieten Müller und sein Roman auf ein Abstellgleis. Sein Appell, nach all den Enttäuschungen, um nicht zu sagen, nach all der „Nazi-Scheiße“, endlich anzufangen, vor der eigenen Tür zu kehren, blieb ohne Folgen – angesichts der Unbelehrbarkeit und Reuelosigkeit weiter Kreise kein Wunder. Auf literarischem Sektor hat Müller, der einst der „Gruppe 47“ angehörte und im Ausland als kommende Größe eines neuen Deutschlands galt, nach 1949 nichts Neues mehr veröffentlicht. Als freier Autor für den Rundfunk tätig, schrieb er Features zu Themen des Dritten Reiches. Schließlich wurde er Wirtschaftsredakteur beim Bayerischen Rundfunk. Er starb 1988, vermutlich in München.
Bastian Müller gehört zu den durch die „zweite Schuld“ (Ralph Giordano) nach 1949 vergessenen und zu Unrecht vergessen gemachten Autoren und Schriftstellern, und er zählt zu den bedeutenden deutschen Nachkriegsautoren. Sein Roman ist in einem Atemzug mit Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Koeppens Roman-Trilogie des Scheiterns und Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ zu nennen.
Am Ende des Romans von Bastian Müller erhält Wilhelm von einem „Staatsgut“, das sich auf einer Insel befindet, unerwartete Hilfe. Eine neue, unerwartete Welt tut sich auf, losgelöst von kapitalistisch-orientiertem Denken. „Die Not des kargen Brotes“, sagte Müller 1949 in einem Interview, „darf nicht zur Not der Unfreiheit werden.“

Bastian Müller: Hinter Gottes Rücken, Donat-Verlag, Bremen 2012, 228 S., 14,80 Euro