von Erhard Crome
Zu den Hinterlassenschaften des Marxismus-Leninismus gehört auch ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Revolution als solcher. Es ist die Hoffnung, dass plötzlich alles besser wird. So war zu einem Gutteil auch die allenthalben anzutreffende Begeisterung für die „Arabische Revolution“ zu erklären, die in Tunesien Anfang 2011 ausbrach und dann auf Ägypten übergriff. Die Rede war von Freiheit und Würde.
Dann wurde diese Revolution auch von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung adoptiert, der deutsche Außenminister begrüßte sie, in ihrem Namen führte der Westen Krieg in Libyen und unterstützt jetzt die Freischärler in Syrien, die mit den Regierungstruppen um die Wette das Land zerstören.
Aber wurden nicht „freie Wahlen“ möglich gemacht und wurde nicht in der Tat in Tunesien, Ägypten und Libyen gewählt? Ja, es wurde. Gewonnen haben überall islamistische Parteien. Ihre führenden Vertreter erklärten der jeweiligen Bevölkerung vorab, sie seien nicht so schlecht wie ihr Ruf, und man würde sich schon arrangieren können. Schließlich wurden sie gewählt.
Was aber in der Praxis geschieht, bleibt vielfach im Dunkel. Die offizielle Politik des Westens hat sich längst mit den neuen Herren vereinbart: Ihr macht, was ihr wollt, in der inneren Politik, und wir bleiben in den wirtschaftlichen Positionen, die wir unter dem alten Regime hatten; ihr werdet international akzeptiert, aber ihr akzeptiert unsere geopolitischen Interessen in der Region und in der Welt. So ist von den „neuen“ konkreten Umständen in den nordafrikanischen Ländern in den großen Medien wenig zu lesen, zu hören und zu sehen.
Ein Schlaglicht fällt plötzlich auf ein einzelnes Ereignis, das das Ganze in grellem Licht erscheinen lässt. Dieser Tage erhielt ich eine Mail aus Kreisen deutscher Hochschullehrer mit der Bitte um Solidarität. Es geht um Solidarität mit dem Dekan der Philologischen Fakultät der Universität Manouba/Tunis, Prof. Dr. Habib Kazdaghli. Ihm droht eine hohe Gefängnisstrafe. Jetzt, unter den neuen Verhältnissen, oder besser: wegen der neuen Verhältnisse.
Die Ereignisse sind Teil der „revolutionären“ Umbrüche in Tunesien. Die Chronologie sieht, etwas gerafft, so aus: Am 6. Oktober 2011 lehnte es die Philologische Fakultät von Sousse (Zentraltunesien) ab, eine Studentin mit Niqab – also total verschleiert – einzuschreiben. Am folgenden Tag trat eine Schar Salafisten auf, die mit der Fakultät nichts zu tun hatten, und griff Hochschullehrer, Verwaltungspersonal, Studentinnen und Studenten an.
Mitte Oktober 2011 erschienen in der Philologischen Fakultät der Universität von Manouba/Tunis zwei Studentinnen mit Niqab, die ebenfalls nicht zugelassen wurden. Unmittelbar nach den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 23. Oktober 2011 und dem guten Abschneiden der islamistisch orientierten Ennahda-Partei, die 42 Prozent der Stimmen erhielt, versammelte sich eine Gruppe von salafistischen Studenten vor dem Büro des Dekans und verlangte, dass ihre „Schwestern“ mit Niqab am Unterricht teilnehmen dürfen. Der Wissenschaftliche Rat der Fakultät beschloss daher am 2. November 2011, dass alle Studentinnen mit unbedecktem Gesicht zum Unterricht, zu Prüfungen und zu den Betreuungssitzungen zu erscheinen haben – wie anders sollen sonst Prüfungen abgelegt werden können; da kann ja jeder unter dem Schleier sein.
Es folgten Verhandlungen zwischen den Salafisten und dem Wissenschaftlichen Rat, an dessen Spitze der Dekan steht, die den ganzen Monat November über andauerten, ohne dass eine Lösung gefunden wurde. Die Salafisten bestanden auf vier Forderungen: dem Recht, am Unterricht im Niqab teilnehmen zu können; der Bereitstellung eines Gebetsraumes in der Fakultät; der Trennung der Studierenden nach Geschlecht und schließlich: Studentinnen sollen von Frauen und Studenten von Männern unterrichtet werden. Da eine Verhandlungslösung nicht erreicht werden konnte, besetzten Dutzende von Salafisten, die mit der Fakultät nichts zu tun haben, am 28. November gegen 8 Uhr morgens die Philologische Fakultät von Manouba. Sie hinderten die Studierenden daran, ihre Seminare zu besuchen, schlossen die Eingangstüren der verschiedenen Abteilungen und begannen eine Sitzblockade im Hauptverwaltungsgebäude, in dem sich das Büro des Dekans befindet. Am selben Tag versuchten sie, den Dekan, Prof. Kazdaghli, als Geisel zu nehmen, scheiterten jedoch an der massiven Solidarität der demokratischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft, die über das Radio von den Geschehnissen erfuhren und zu Hilfe eilten.
Trotz der schwierigen Bedingungen, denen er ausgesetzt war, ging der Dekan weiter seinen täglichen Obliegenheiten nach. Am 6. Dezember 2011 lagen vor seinem Büro Schuhe, Mikrophone, Lautsprecher, Essenreste, Gebetsteppiche und Matratzen – dort hatten die Sitzblockierer übernachtet. An diesem Tage hinderten die Salafisten den Dekan daran, das Hauptverwaltungsgebäude zu betreten und in sein Büro zu gelangen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Fakultät zu schließen und die Polizei um Hilfe zu bitten. Die kam schließlich am 5. Januar 2012 – einen Monat später –, um der Sitzblockade ein Ende zu machen. Eine Handvoll Salafisten, die sich des Wohlwollens der islamistisch geprägten Regierung gewiss war, verhinderte einen Monat lang den Lehrbetrieb für etwa 8.000 Studentinnen und Studenten.
Trotz der Präsenz der Polizei blieb die Situation angespannt. Am 6. und 7. März spitzte sich die Lage zu. Am 6. März 2012 betraten zwei Studentinnen mit Niqab ohne Voranmeldung das Büro des Dekans und verwüsteten es. Der Disziplinarausschuss hatte am 2. März beschlossen, sie und einen weiteren Studenten der Uni zu verweisen. Eine der Studentinnen inszenierte dann am 6. März einen Ohnmachtsanfall und behauptete später, der Dekan habe sie geschlagen – obwohl viele Zeugen bestätigten konnten, dass dieser die Fakultät zu dem Zeitpunkt längst verlassen hatte. Wegen der Zerstörungen im Büro wollte Prof. Kazdaghli bei der Polizei Anzeige gegen die beiden Studentinnen erstatten. Am 7. März versammelten sich etwa einhundert Salafisten aus den umliegenden Vierteln vor der Fakultät, terrorisierten die Studierenden, holten die tunesische Nationalfahne ein und ersetzten sie durch die schwarze Fahne von El Kaïda.
Am 9. Juni 2012 erhielt der Dekan für den 5. Juli eine Vorladung vor Gericht. Der Hauptanklagepunkt lautete, er habe gegen eine Studentin mit Niqab Gewalt ausgeübt. Eine Anklage gegen die Studentinnen wegen der Verwüstung des Büros wurde nicht erhoben. Am 5. Juli, am Prozesstag, verschärfte die Staatsanwaltschaft den Hauptanklagepunkt und wirft ihm nun vor, bei der Ausübung seiner Funktion als Beamter ohne legitimen Anlass Gewalt gegen Personen angewendet zu haben (Art. 101 des tunesischen Strafgesetzbuches). Danach droht dem Dekan eine Haftstrafe von fünf Jahren. Auf Antrag seiner Rechtsanwälte wurde der Prozess auf den 25. Oktober 2012 vertagt.
Das Ende ist offen – des Prozesses und der Revolution.
Schlagwörter: Erhard Crome, Habib Kazdaghli, Revolution, Salafisten, Tunesien