15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Im Garten des Pianisten

von Renate Hoffmann

Wer beschreibt es, dieses Land der Sinnenfreude – und der Wehmut, wenn man es verlassen muss? Italien.
Boccaccio erzählt im Decamerone: „Ganz in der Nähe von Salerno erhebt sich eine Küste über dem Meer, die von den Einwohnern die Küste von Amalfi genannt wird, übersät mit kleinen Städten, mit Gärten und mit Brunnen […]“ Eine dieser Städte heißt Positano. Paul Klee hielt den Ort für „den einzigen auf der Welt, der auf einer vertikalen anstatt einer horizontalen Achse angelegt ist.“ Für John Steinbeck  glich er einem Traum, „der nicht ganz wirklich zu sein scheint, wenn man dort ist, aber verlockend real wird, wenn man abgereist ist“.
Wenn man anreist, entlang der bizarren, begrünten, von Euphorbien gelb überschwemmten Steilküste, das Türkisblau des Thyrrenischen Meeres zur Seite, so gleicht der Anblick wahrhaft einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Das Städtchen schiebt sich die Hänge des Monte Comune und Monte Sant’ Angelo a tre pizzi hinauf und bis zum Strand hinunter. Wie ist sie nur verankert, diese urbane Vertikale, die bunte Stufenstadt, deren noch halbwegs freie Winkel üppiges Blühen füllt. Treppen und Gassen schmaler als schmal und doch voller Leben. Ort der Inspiration und Sinneslust. Künstler kamen, sahen, gingen und kamen wieder. Unter ihnen Stefan Andres, Brecht, Picasso und Wilhelm Kempff (1895-1991), weltweit gefeierter Pianist, Komponist und Musikpädagoge.
Er sah die zerklüftete Küste und Positano erstmals im Jahre 1928. Gebannt von der Atmosphäre aus Licht, Farbe und Landschaft, gehörte er zu denen, die wiederkehrten. Wilhelm Kempff erwarb ein Grundstück und errichtete darauf 1956 der Musik ein Haus, Orpheus zugeeignet: die Casa orfeo. Im Folgejahr begannen die, bis in die Gegenwart fortgeführten Meisterkurse für junge Pianisten. Vorrangiges Studienprogramm waren und sind die 32 Sonaten und die fünf Klavierkonzerte von Beethoven. Wohl  kaum ein Zweiter durchdrang den musikalischen Gehalt dieser Werke so umfassend und ließ ihn so nachempfinden, wie Kempff.
Alfred Brendel verglich ihn mit einer Äolsharfe, die, wenn der rechte Wind wehte, das großartigste Spiel hervorbrachte, das er je gehört habe. – Der Maestreo war nicht nur Ehrenmitglied der Royal Academy of Music, London, sondern auch Ehrenbürger von Positano. Sein Anwesen dort ist nun die „Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung“ mit allen ihren anspruchsvollen Aufgaben.
Eine Tafel weist den Weg: „Fondazione Orfeo“. Über steile Stufen aufwärts. In Farbwogen wirft sich Kapuzinerkresse über die Mauern. Unter Pergolen hindurch, an denen Bougainvillea in Überfülle blüht. Wie eine Ehrengarde steht die samtig blaue Iris aufgereiht am Steig. Von Terrasse zu Terrasse. Zypressen, hoch aufgerichtet und hoch im Alter; silberblättrige Olivenbäume, die der Mittagshitze das Lähmende nehmen. Jeder Stein hat seine schmückende Ergänzung. Sei es eine Marmorsäule, die er trägt, sei es eine Tonvase neben sich, aus der flutartig weiße Blüten quellen. Auf einem Relief, von immergrünem Laub gerahmt, spielt Euterpe, Muse der Tonkunst und lyrischen Dichtung, die Doppelflöte.
Die Casa Orfeo. Weiß, mit flachem Dach und Bogengang, der auf eine Terrasse führt. Und den Blick frei gibt hinüber zur Weite und unwirklichen Bläue des Meeres. Man steht und staunt. Spielzeugklein ziehen Schiffe ihre Bahn. Keck schieben sich die Galli-Inseln („Li Galli“) aus dem Wasser, um mit ihrer Legende zu prunken. Es sollen nämlich drei Sirenen gewesen sein, Ligea, Leucosia und Parthenope, die sich hier, tief verletzt, ins Meer stürzten. Odysseus hatte sich ihren Gesängen versagt. Nunmehr gelten sie – verinselt – als Mahnzeichen verschmähter Lockrufe der Liebe.
Im Gartensaal der Casa Orfeo erinnert ein Marmortäfelchen an die drei gekränkten Damen. – Den schlichten Raum, zurückhaltend dekoriert, beherrscht der große Konzertflügel, dem ein kleiner Flügel beigestellt ist. Obgleich nur Vogelrufe zu hören sind, scheinen hier andere Töne mitzuschwingen. Duft nach Zitronen zieht herein. Und nach Rosen. Im Garten eifern sie kleinblütig, weiß und wildrankend mit dem Orange der Clivien. Kamelien, von Knospen überzogen, halten ihre Blütezeit noch nicht für gekommen.
Treppenaufgänge. Lorbeerhecken, die Steinbänke umschließen oder eine Skulptur in ihrem Dunkelgrün verbergen. Ein Medusenhaupt blickt den Gartenbesucher unverwandt an. Wilhelm Kempff kaufte es einem Manne ab, der zugab, sich davor zu fürchten.
Lob der Gartenschönheit – und ebenso dem Nutzen. Wo es die Steillage erlaubt, sind Gemüsebeete angelegt. Zwiebeln und Bohnen gedeihen prächtig. Am Rande leitet buschiger Acanthus doch wieder zu Rosen und mehrfarbigen Geranien über. Wilder Wein versteckt niedrige Mauern. Zusammenspiel von Stein und Pflanze.
Nur eine kurze Wendung – da blaut das Meer herauf. Nun Stufe um Stufe abwärts. Als ginge man von der Vielfalt der Gartenideen in die Klarheit der Ferne. – Erklingt im Hause wirklich Beethovens Sonate Nr. 9 in E-Dur, die poetisch-gelöste? Oder ist es das Geblühe ringsherum, das mir ähnliche Melodien zuträgt?