15. Jahrgang | Nummer 17 | 20. August 2012

Hermann Hesse in Basel

von Mathias Iven

Stefan Zweig gegenüber äußerte Hermann Hesse einmal, dass er eigentlich „kein Briefschreiber“ sei. Doch aus dem Gefühl heraus, für die Wirkung seiner Publikationen Verantwortung zu tragen, entstand im Verlaufe von mehr als sechs Jahrzehnten ein fast unüberschaubares Briefwerk, das immerhin etwa ein Drittel von Hesses schriftstellerischer Lebensleistung umfasst. Eine Gesamtausgabe wird es bei einem Umfang von nahezu 60.000 heute nachgewiesenen Schreiben von und an Hesse wohl nie geben. Umso erfreulicher ist es, dass Volker Michels jetzt den ersten Teil einer neuen, auf zehn Bände angelegten (Auswahl)-Edition vorlegt, die bisher Unpubliziertes neben die bereits andernorts veröffentlichten „aussagekräftigsten“ Briefe Hesses stellt. Der zeitliche Rahmen umspannt die Jahre 1881 bis 1904 und reicht somit von Hesses erstem Basler Aufenthalt bis hin zur Übersiedelung nach Gaienhofen. Es mag sein, dass die Mitteilungen aus dieser Zeit inhaltlich und stilistisch nicht so repräsentativ sind, wie die Korrespondenz der späteren Jahre. Wichtig ist ihr dokumentarischer Stellenwert, denn sie zeigen, wie Michels betont, „die Selbstbehauptungsversuche und den schwierigen Werdegang eines jungen Menschen auf dem Weg zu seiner Berufung“.
Insgesamt mehr als zehn Jahre verbringt Hermann Hesse in Basel. Das erste Mal kommt er gemeinsam mit den Eltern und Geschwistern im Frühjahr 1881 in die Stadt: Hesses Vater unterrichtet in den kommenden fünf Jahren an der Basler Missionsschule und ist gleichzeitig verantwortlicher Herausgeber des „Basler Missionsmagazins“. Kaum in Basel angekommen diktiert der Vierjährige seiner Mutter ein paar wenige, an seinen nur ein Jahr älteren Vetter Hermann Gundert gerichtete Zeilen. Schon dieser älteste, nur fragmentarisch überlieferte Brief zeugt von Hesses Eigensinn, der seinen Eltern in den kommenden Jahren noch oft Sorgen bereiten sollte.
Im Sommer 1886, kurz nach Hesses neuntem Geburtstag, kehrt die Familie nach Calw zurück. Basel bleibt Hesse im Gedächtnis. Für ihn ist dieser Kindheitsort, wie er Helene Voigt-Diederichs gesteht, die „Stadt der Städte“. In einem Brief an die Eltern erinnert er sich später an die sommerliche Unbeschwertheit und bekennt, „einen wehmütigen Respekt vor der ungebrochenen Kraft und Fülle jener Jahre [zu haben], die mir jetzt oft in Pracht und Sehnsucht wieder aufleben“. Bei solcherart Sich-hingezogen-Fühlen verwundert es nicht, dass Hesse sich nach dem Abschluss seiner Tübinger Buchhändlerlehre erneut nach Basel aufmacht. Mit 22 Jahren tritt er 1899 eine Stelle als Sortimentsgehilfe in der Reich’schen Buchhandlung an. Die knapp bemessene Freizeit nutzt er, um seine „etwas lückenhaften kunstgeschichtlichen Kenntnisse zu revidieren und möglichst zu vergrößern“. Daneben verfasst er Gedichte, arbeitet an kleineren Artikeln und schreibt Rezensionen. Schließlich veröffentlicht er Ende 1900 auf eigene Kosten die „Hinterlassenen Schriften und Gedichte des Hermann Lauscher“ – das Buch, das ihm den Weg zu seinen zukünftigen Erfolgen ebnet.
Finanziert durch den Verkauf von 25 Abschriften seiner unter dem Titel „Notturni“ zusammengestellten Gedichte bricht Hesse im Frühjahr 1901 zu seiner ersten Italienreise auf. Zurück in Basel wechselt er in das Antiquariat von Eugen von Wattenwyl. „Meine Arbeit“, berichtet er den Eltern, „ist vielseitig, interessant und einstweilen befriedigend. Dagegen ist der Geschäftsbetrieb altmodisch und schwerfällig, so daß bei vieler Mühe wenig herauskommt.“
Auch wenn sich langsam der schriftstellerische Erfolg einstellt, Hesse hält sich fern von den Vertretern der „zunftmäßigen Literatur“; und er widersetzt sich jeglicher Einordnung: „Zum Volksschriftsteller bin ich nicht naiv genug und zum Salonschriftsteller teils zu stolz, teils nicht geschmeidig genug.“ In seiner „Ungeselligkeit“ macht er lediglich „mit bildenden Künstlern (Malern und Architekten) eine Ausnahme“. Sein Schreiben soll ihm ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen: „Das Ziel all meines Strebens ist, einmal so viel Geld zu haben, daß ich aus der literarischen und geselligen Welt verschwinden und als stiller Wanderer und Genießer allein und fidel schöne Länder durchbummeln könnte.“ Zunächst reist Hesse Anfang 1903 ein zweites Mal nach Italien, an seiner Seite die Fotografin Maria Bernoulli.
Die erhoffte finanzielle Unabhängigkeit bringt „Peter Camenzind“. Mag Hesse selbst auch der Meinung sein, dass das von ihm im Mai 1903 bei S. Fischer eingereichte „Werkchen unmodern, ja antimodern ist“ und seine Schriften insgesamt „zu erheblichen Bucherfolgen wohl nicht geeignet sind“ – der Verlag und die Leser sehen das anders. Als Hesse im Sommer 1903 seine Stelle im Antiquariat Wattenwyl aufgibt und sich vorerst nach Calw zurückzieht, ist seine Zukunft noch immer unbestimmt – selbst wenn ihn das vom Verlag entgegengebrachte Vertrauen zuversichtlich macht. Nach dem Vorabdruck in der Neuen Deutschen Rundschau erscheint im Februar 1904 die Buchausgabe des „Peter Camenzind“. Die erste Auflage ist nach zwei Wochen vergriffen, noch im selben Jahr folgen vier weitere. Der unverhoffte Erfolg verändert Hesses Leben. Er ist als Schriftsteller „arriviert“ und kann endlich von seiner Berufung leben. Im August 1904 heiratet er Maria Bernoulli. Mit der Übersiedelung des Paares nach Gaienhofen endet Hesses zweite Basler Zeit.
Noch einmal kehrt Hesse in den Wintermonaten der Jahre 1923/24 und 1924/25 nach Basel zurück. Wenige Jahre zuvor hat er in Carona Ruth Wenger kennen gelernt, die er im Januar 1924 in zweiter Ehe heiratet. Seit 1922 bewohnt sie ein Appartement in dem am Rhein, auf der Kleinbasler Seite gelegenen Hotel Krafft. Auch Hesse logiert in seinem ersten Basler Winter hier. Man trifft sich zwar und nimmt die Mahlzeiten gemeinsam ein, lebt allerdings – auch nach der Hochzeit – getrennt. So, meint Hesse, könne sich jeder besser auf seine Arbeit konzentrieren: er auf seine Schriftstellerei und Ruth auf ihre musikalische Ausbildung. Während des zweiten und letzten Basler Winters – die Sommermonate hat Hesse allein in Montagnola verbracht – mietet er eine kleine Mansardenwohnung auf der Großbasler Seite und arbeitet am „Steppenwolf“. Auch jetzt lebt wieder jeder für sich allein – ein für Ruth auf die Dauer unhaltbarer Zustand, 1927 reicht sie schließlich die Scheidung ein.
Wer Hesses Basler Wegmarken folgen möchte, dem sei die jüngste Veröffentlichung von Helen Liebendörfer empfohlen. Das schmale, reich bebilderte und die Stadtgeschichte einbeziehende Büchlein, das sich auch den Jahren zwischen den Basler Aufenthalten zuwendet, eignet sich hervorragend als kurzweiliger Reisebegleiter für eine ausgedehnte Tagesexkursion, die von der Großbasler auf die Kleinbasler Seite führt. Einziger Wermutstropfen für den auf Hesses Spuren Wandelnden: Der dem Text vorangestellte Stadtplan ist wenig aussagekräftig. Versehen mit einer Legende könnte er bei einer Neuauflage beispielsweise auch all die anderen, im Text nicht näher beschriebenen Basler Wohnungen Hesses verzeichnen.

„Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen!“ Hermann Hesse: Die Briefe, Band 1 (1881–1904), Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 661 S., 39,95 Euro. Helen Liebendörfer: Spaziergang mit Hermann Hesse durch Basel, F. Reinhardt Verlag, Basel 2012, 78 S., 16,80 Euro