15. Jahrgang | Nummer 17 | 20. August 2012

Den Namenlosen eine Stimme geben

von Gerd Kaiser

Den Namenlosen eine Stimme zu geben war das Anliegen von mehr als 100 Frauen, Männern und Jugendlichen, die am 25. Juli auf dem geschichtsträchtigen Rosa-Luxemburg-Platz im Herzen der Hauptstadt zusammenkamen. Eingeladen vom Arbeitskreis „Deutsche Antifaschisten im Exil in der UdSSR“ trafen sie sich im Gedenken an jene bisher ermittelten 766 Antifaschisten aus Deutschland, die 1937 bis 1938 allein im Zuge der „Deutschen Operation“ des NKWD erschossen worden sind, Opfer des „Großen Terrors“ wurden. Namen für Namen wurde verlesen, erinnerte an die Toten. Mit ihrem politischen Engagement und beruflichem Können hatten diese Männer und Frauen seinerzeit begeistert am Auf- und Ausbau des Sowjetlandes teilgenommen. Nach 1933 suchten sie, Ärzte, Metall- und Holzarbeiter, Wissenschaftler, Handwerker, Künstler und Architekten, hier auch Zuflucht vor faschistischer Verfolgung, gerieten jedoch – zwischen Baum und Borke – in die Mühlen stalinistischer Verfolgung.
Das Erinnern an sie, gehört zum selbstbestimmten Arbeitsprogramm des seit einigen Jahren im Berliner VVN/Bund der Antifaschisten wirkenden Arbeits- und Gesprächskreises. Er bewahrt die Erinnerung an Tausende Antifaschisten aus Deutschland, deren Lebensschicksale jahrzehntelang verschwiegen wurden, die aus der UdSSR nach Deutschland ausgewiesen, in der Sowjetunion verbannt, in Lager oder Zwangsansiedlungen eingewiesen und auch jener, die ermordet worden sind. Die Wahrheit über ihr Leben und Sterben wird erforscht, um den Opfern vielfältiger Willkür endlich historische Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Bislang sind sie – wenn überhaupt – bestenfalls mit dürren „Bescheinigungen“ abgespeist worden, dass ihnen keine „Schuld“ nachzuweisen sei.
In Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftlern wie Aleksander Vatlin (Moskau) und Anatolij Razumow (St. Petersburg) und anderen aus der Bewegung „Memorial“ gelang es Schritt für Schritt und in mühevoller Kleinarbeit eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Datenbank zu begründen. In ihr sind, so der derzeitige Arbeitsstand, die Biographien von mehr als 8.000 deutschen Emigranten dokumentiert, die sich ab 1936 in der UdSSR aufhielten. Im Ergebnis jahrelanger engagierter Arbeit entstanden beim Arbeitskreis im Berliner Landesverband der VVN/BdA inzwischen auch eine Handbibliothek und eine Materialsammlung zum Thema.
Die vielfältige Kärrnerarbeit der im Arbeitskreis Verbundenen knüpfte nicht nur an frühere Veröffentlichungen zum Thema wie „Totgesagt“ (Trude Richter), „Lästige Zeugen?“ (Elfriede Brüning), „Unter falscher Anschuldigung. 18 Jahre in Taiga und Steppe“ (Helmut Damerius) oder an Dokumentationen wie „Verurteilt zur Höchststrafe: Tod durch Erschießen“ in der Reihe „Texte“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Dokumentarfilme wie „Wir Kommunistenkinder“ sowie den jüngst fertig gestellten Film  „Im Schatten des Gulag. Als Kinder unter Stalin geboren“ an, sondern öffnete verschüttete oder versiegelte Quellen vielfältigen historischen Erlebens. Darüber hinaus ermöglichten es monatliche Diskussionsrunden im Rahmen der VVN/BdA den Opfern historischer Willkür sich zum Teil jahrzehntelange Lasten von der Seele zu reden.
Zusammenkünfte und Projekte dieser Art mündeten unter anderem auch in zwei wissenschaftliche Konferenzen über „Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil“ (2010) und „Nach dem Schweigen“ (2012), die von einigen hundert Interessierten besucht wurden. Ergebnisse dieser Veranstaltungen sind in zwei Heften der Pankower Vorträge des Vereins „Helle Panke“ e.V. (Heft 148 und Heft 167) veröffentlicht worden. Videoaufzeichnungen dokumentieren die Vorträge, das für und wider, der beiden Veranstaltungen.
Überlebende Freunde und Nachkommen der Verfolgten, nicht wenige von ihnen selbst verbannt oder in der Verbannung oder in Lagern geboren, wirken im Arbeitskreis gemeinsam mit Wissenschaftlern und Unterstützern zusammen, um den Opfern ihre Ehre wiederzugeben. Aus den bis zu Anfang der neunziger Jahre des blutigen vorigen Jahrhunderts verschlossenen Geheimarchiven, aus den Tiefen der Erinnerungen und Familienarchive, wird Lebenslauf für Lebenslauf der Opfer vielfältiger Verfolgung deutscher Antifaschisten, der „auf ewig“ Verbannten, der Toten und in der Regel namenlos Verscharrten, ausgegraben. Endlich erhalten sie ihren Namen zurück, erhalten die bisher Namenlosen eine Stimme, wie in der würdigen Veranstaltung Ende Juli auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.
Die Idee für diese Veranstaltung erwuchs in freimütiger Diskussion um das Für und Wider einer öffentlichen Benennung von Opfern aus den Reihen von Emigranten aus Deutschland, deren Schicksal keinen Platz im historischen Gedächtnis der DDR und schon gar nicht in dem der BRD gefunden hat. Am Anfang stand die Suche nach einer würdigen Form der Erinnerung. Nach öffentlicher Diskussion wurde entschieden, am Karl-Liebknecht-Haus, 1926 bis 1933 Sitz der KPD-Führung – jener Partei, der die meisten der Opfer entweder angehört oder sie unterstützt hatten –, ein erstes Gedenkzeichen für die in der Sowjetunion verfolgten und ermordeten deutschen Antifaschisten anzubringen. Der seit Jahren von der Parteiführung der Linken nicht aufgegriffene Vorschlag für den Text der Gedenktafel lautet: „Ehrendes Gedenken an Tausende deutscher Kommunisten und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden.“ Bis auf  Wolfgang Gehrke, der sich im derzeitigen Vorstand der Linken um diesen Vorschlag kümmern soll, brillierten alle anderen Funktionäre der Linken am 25. Juli durch Abwesenheit von der Veranstaltung in Rufweite des Karl-Liebknecht-Hauses.
Gegenwärtig entsteht, getragen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Berliner Landesverband der VVN/BdA, eine zweisprachige Ausstellung in deutsch und in russisch. Ende dieses Jahres werden 20 Tafeln auf den Weg nach Russland und nach Kasachstan gebracht. Vier Tafeln geben zu den Themen „Gut angekommen“, „Du lebst noch?“ und über die  „Täter im Parteiauftrag“ sowie „Akmola – Das weiße Grab“ eine summarische Übersicht zu Ursachen, Umfang und Folgen sowie den politischen und sozialen Rahmenbedingungen der Emigranten aus Deutschland in der Sowjetunion. An Hand bisher weitgehend unbekannter Dokumente, Briefschaften, Lebenserinnerungen und Fotos werden auf  Familien-Tafeln die Lebensgeschichten jeweils einer Familie deutscher Emigrantenfamilien erzählt.
Die Sorge, dass Projekte wie die Verlesung der Namen der Toten oder die vorgesehene Ausstellung, Projekten, die den bisher Namenlosen eine Stimme geben, von Antikommunisten missbraucht werden können, sollte nicht dazu führen die Opfer stalinistischer Politik auch künftig zu verschweigen, denn Terror hat, wie schon Rosa Luxemburg warnte nichts mit der Idee des Kommunismus zu tun, einer Idee, der die meisten der zu beklagenden Opfer angehangen haben.