von Klaus Hammer
Mit Charles Baudelaire begann eine neue Epoche in der Geschichte der europäischen Lyrik. Er brachte neue faszinierende Themen wie das Morbide, Paradoxe und Abgründige in die Poesie und verlieh als einer der Ersten dem Empfinden des modernen Großstadtmenschen Ausdruck. In einer hässlich gewordenen Welt wollte er das Schöne durch Imagination und Erinnerung in der Dichtung wiedergewinnen.
Sein dichterisches Hauptwerk „Die Blumen des Bösen“ (1857) ist jetzt in der Lyrik-Reihe im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins in einer handlichen Ausgabe und in der Umdichtung von Stefan George erschienen. Dieses epochale Werk bereitete formal und thematisch die moderne europäische Lyrik vor. Von der emotionalen Bekenntnislyrik der Romantik hob sich Baudelaire klar ab. Dichtung war für ihn ein intellektueller Prozess. Die radikal veränderte Thematik ging einher unbedingtem Formwillen, der sich in der genauen Komposition und in strengen Gedichtformen niederschlug. Wesentliche Kennzeichen seines Stils sind suggestive Bilder und Metaphern, rhythmische Sprache und die poetische Kraft der Symbole.
Das einleitende Gedicht „Segen“ verweist auf die Eigenart des Zyklus als angebliche Ausgeburt einer höllischen Fantasie. „Ennui“ bezeichnet jenes Gefühl, zu dem der moderne Mensch verdammt ist, eine Mischung aus Schwermut, Langeweile und Lebensüberdruss. Ob aus der Übersättigung oder aus dem Verlust an Illusionen erwachsen, „ennui“ bildet eines der widerlichsten und gefährlichsten Gebrechen der modernen Zivilisation. Der Dichter nimmt die Pose desjenigen ein, der sich in Verstellung und Schein darstellt, Mime, Saltimbanque, Bouffon und Bohemien sind seine erratischen Identifikationsfiguren. Die Künstlichkeit der Großstadt, der Rausch und die Blasphemie bieten nur scheinbar Fluchtpunkte. Die Gedichte der ersten, umfangreichsten Gruppe „Spleen et idéal“ (von Stefan George mit „Trübsinn und Vergeistigung“ übersetzt) spiegeln das Ringen des Dichters wider, seine Aufschwünge, Stürze und seine Resignation. Dem „ennui“ beziehungsweise “ spleen“, den Walter Benjamin als „Katastrophe in Permanenz“ definierte, stellt Baudelaire die Sehnsucht nach dem Ideal, das „Streben nach dem Grenzenlosen“ entgegen. Die moderne Zivilisation ist für ihn eine entfremdete Welt, in der kaum einer die Erfüllung seines Lebenssinns findet. In den Hymnen auf die dunkle Geliebte und ihre Attribute sind die auf den Tropeninseln gemachte Entdeckung einer antikanonischen, bizarren, regelwidrigen Schönheit eingeflossen, deren Haar, deren Duft, deren Gang er Lobgesänge in einer kühnen Assoziationstechnik gewidmet hat.
Die unter dem Titel „Pariser Bilder“ zusammengefassten Gedichte begründeten Baudelaires Ruhm, als erster die zivilisatorischen Reize der modernen Großstadt in die Poesie einbezogen zu haben. Die Gedichte enthalten Bilder, Träume und Visionen von Paris, der „schrecklichen Landschaft“, die bevölkert wird von Blinden und Bettlern, Buckligen und Greisen. Selbst das Grauen kann den müßigen „Flaneur“ faszinieren. Haussmanns neue Boulevards mit ihren glatten Bürgersteigen und asphaltierten Straßenflächen erzeugten überhaupt erst jenes Großstadt-Durcheinander, die schiebende und geschobene Menge, ohne das Baudelaires Gedicht „Einer Vorübergehenden“ nicht hätte entstehen können: „Es tost betäubend in der strassen raum…“ In den Gedichten der Gruppe „Der Wein“ geht der Dichter den bewusstseinserweiternden Wirkungen von Rauschgiften nach und singt dem Wein ein Loblied, da er das Elend vergessen ließe und die Liebenden in das Paradies der Träume führe. Doch letztlich bringt auch die Flucht in den Rausch keine Erlösung. Aus den Gedichten der Gruppe „Blumen des Bösen“ und den blasphemischen Versen von „Aufruhr“ spricht die Stimme der Verzweiflung, aus der kein Weg mehr hinauszuführen scheint. Die Gedichte „Der Tod“ und „Die Reise“ beschreiben die letzte Reise in den Tod, die Erlösung bringt vom „ennui“. Der Dichter unternimmt die Reise, gleich, ob sie zum Himmel oder zur Hölle führt, da er auf dem Grund des Unbekannten Neues zu finden hofft.
Baudelaires neue Sensibilität analysiert die neue Epoche nicht mehr nach dem üblichen Schema – wie Fortschritt oder Verfall –, sondern im Erspüren der Atmosphäre, im Wahrnehmen ganz neuer sozialer und seelischer Befindlichkeiten, im Bewusstsein, dass eben nur dieses gleichzeitig exakte und intuitive dichterische Erkundungswagnis das Bild der Zeit liefern würde. Er zerriss die Träume von einem bürgerlichen Reich der Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenliebe, Harmonie und Schönheit und schilderte stattdessen die Kehrseite dieser Illusionen: die Herrschaft des Egoismus, der Rohheit und Sinnlichkeit. Er zerschlug das Traumbild einer schönen Natur, in der sich die Menschen in Harmonie und Glück begegnen. Als Gegenbild führte er die Welt der bürgerlichen Zivilisation in die Dichtung ein, welche die ganze Existenz, auch die Natur durchwaltet und die Menschen sich fast nur noch in der Enge der Stadt zu Hause fühlen lässt. Die Gestaltung der Entfremdung zwischen den Menschen verlangte den Verzicht auf eine den unmittelbaren Kontakt von Mensch zu Mensch herstellende Gefühlslyrik, statt der „Poesie des Herzens“ eine „fühllose“, kühle Dichtung. Mit Baudelaire beginnt die Entpersönlichung der modernen Lyrik, auch die Tendenz der Verdinglichung, die Neigung, Personen Dinge anzuverwandeln.
Der Erfolg des Gedichtbandes war zu Lebzeiten Baudelaires eher gering. Erst spätere Dichtergenerationen wie die Symbolisten und die Surrealisten erkannten die neuartige suggestive Sprachmagie der Lyrik. Baudelaires entscheidender Einfluss ist im Werk von Dichtern wie Verlaine, Rimbaud und Stéphane Mallarmé, Paul Valéry, Georg Trakl, Rilke oder Paul Celan erkennbar. Der Gedichtband wurde mehrfach ins Deutsche übertragen, erstmals von Stefan George (1901).
Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Berlin 2011. 191 Seiten, 9,90 Euro
Schlagwörter: Charles Baudelaire, Klaus Hammer, Poesie, Stefan George