15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Humanis-mousse au Chocolat

von Georg Schramm

(…) Und jetzt wird Marlene ihnen noch etwas von dem präsentieren, das Sie soeben ausgezeichnet haben. Es ist mein Lieblingstext, ich habe ihn zu Ehren von Kurt Tucholsky „Bürgerliche Wohltätigkeit“ genannt, er ist allerdings nicht für die Bühne geschrieben, sondern für eine Festrede bei einer Wohltätigkeitsgala. Er stammt aus dem Jahr 1988. Damals wurde in Konstanz eine circa sieben Millionen Mark teure Kinderklinik gebaut, zum Schluss fehlten allerdings einige zehntausend Mark für die kindgemäße Ausstattung. Der Leiter der Klinik organisierte eine Benefiz-Gala im Steigenberger Insel-Hotel, Eintritt 150 Mark, das kalte Buffet zahlte der Pharma-Konzern Byk Gulden, Schirmherr war der Baudezernent, der für die Misswirtschaft verantwortlich war. Ich war damals noch als Psychologe in eine neurologischen Rehaklinik tätig und wurde als Festredner engagiert.

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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Wohltäterinnen und Wohltäter!
Wir erleben in vielfacher Hinsicht einen bemerkenswerten Abend. Ein exquisites Buffet, schöne Frauen und große Weine einer alten Kulturlandschaft, zusammengeführt in einer festlichen Ballatmosphäre, die wir nicht zuletzt der sorgfältigen Auswahl der Gäste verdanken: Wo gibt es das heute noch? Und: Wem verdanken wir dieses kulturelle Kleinod? Es lohnt sich, dieser Frage kurz nachzugehen.
Auf den ersten Blick ist es ein scheinbarer Missstand, der diesen glanzvollen Abend hervorbringt. Beim millionenteuren Bau der neuen Kinderklinik fehlen am Ende ein paar zehntausend Mark für die kindgerechte Ausstattung. Professor Schwenk, der Klinikleiter, hat uns ja den unmittelbaren Anlass dargestellt. Aber lassen Sie uns noch für einen Moment der Frage folgen, weshalb derartige Ereignisse wie der heutige Wohltätigkeitsball so selten geworden sind. Es hat ja zu allen Zeiten die großen Bälle der Burschenschaften, der Logen, Rotarier und Lions Clubs gegeben, die wesentlich der Unterstützung und Förderung des männlichen akademischen Nachwuchses dienten. Auch die Stahlindustrie hat zu Beginn des Jahrhunderts, in den schweren Zeiten der Weimarer Republik und in der Krisenzeit der siebziger Jahre den notleidenden und bedrängten Parteien Unterstützung zukommen lassen.
Gänzlich unvergessen aber die Hilfe im Kleinen: Die unzähligen Feste und Basare rühriger Bürgersfrauen, die sich die Finger wund strickten für die wärmende Winterkleidung der einfachen Soldaten, die zum Wohle des aufsteigenden Bürgertums ins Feld zogen. Natürlich brauchen wir heute keine Pulswärmer mehr für die Infanterie zu stricken. Und ein Ball wie dieser mit einer Spendensumme von 20 bis 30.000 Mark könnte gerade mal den Sitzgurt vom Schleudersitz des neuen Abfangjägers der Luftwaffe finanzieren.
Fraglich ist auch, ob die von uns so beschenkten Kampfflieger die Spende auch mit einem dankbaren Leuchten ihrer dunklen Kinderaugen und einer kleinen Flugvorführung mit dem neuen Spielzeug vergelten würden. In diesem Bereich ist also aus gutem Grund die Gemeinschaft aller Steuerzahler notwendig, und – dies sei anerkennend hinzugefügt – sie wird in diesem Bereich ihrer Aufgabe auch gerecht. Aber wenn man oben den wehrhaften Arm des Volkskörpers mit der finanziellen Decke wärmt, werden unten die Füße kalt. Die Decke fehlt an der Basis des Gemeinwesens. Auch hier gibt es jedoch Grenzen des für die Spendenbereitschaft so wichtigen guten Geschmacks.
Stellen Sie sich vor, die oben genannte Summe fehlt im benachbarten Etat: Beim Dienstwagen des Landrats reicht es nicht für die S-Klasse. Der Landrat wäre gezwungen, einen nur mit dem unbedingt Erforderlichen ausgestatteten VW oder Opel fahren zu lassen mit allen schädlichen Konsequenzen für seine psychische Entwicklung. Ein Wohltätigkeitsball mit Tanzeinlage der Schreibkräfte und Tombola des Personalrats wäre kaum denkbar, das Spendenaufkommen eher gering. Der adäquate Platz von Wohltätigkeitsveranstaltungen ist deshalb ohne Zweifel der soziale Bereich. Nur hier ist eine finanzielle Lücke sinnvoll und trifft auch auf das schlummernde Bedürfnis potenzieller Spender.
Und noch ein anderer, sehr wichtiger Aspekt soll hier erwähnt sein: Wir dürfen nicht nur einseitig den Nutzen der Spende für den Beschenkten sehen, sondern auch den Output für den Spender. Professor Schwenk hat in seinem Einladungsschreiben zu Recht auf das in den USA sehr viel weiter verbreitete und bewährte System privater Spenden und „Welfare“-Veranstaltungen hingewiesen, die heute ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens höherer Schichten in den USA geworden ist. Wie groß der allseitige Nutzen daraus ist, belegt vielleicht am besten die Äußerung eines berühmten New Yorker Psychoanalytikers: „Viele Manager und beruflich Selbstständige können ohne ihr soziales und finanzielles Engagement in Welfare-Organisationen die Kälte des Berufslebens nicht mehr ertragen. … Das soziale Elend ist geradezu notwendig, um dort durch Wohltätigkeit Schuldgefühle abzubauen und der Freizeitdepression und Drogen- und Therapieabhängigkeit Besserverdienender vorzubeugen.“
Eine eindrucksvolle Symbiose. In unserem Land ist es in der Wiederaufbauphase nach dem Krieg zur Errichtung eines so umfassenden öffentlichen Sozialnetzes gekommen, dass ein Verfall des Wohltätigkeitsstrebens in bürgerlichen Kreisen die Folge war. Und der kleine Mann auf der Straße gewöhnte sich daran, soziale Leistungen als ein forderbares Bürgerrecht anzusehen. Erst jetzt dringt wieder ins Bewusstsein aller – und unser Abend leistet in diesem Sinne einen wichtigen Dienst –, dass bestimmte soziale Leistungen eine Gabe sind, die erst dann gewährt werden kann, wenn bestimmte Spielregeln wie steuerliche Entlastung Besserverdienender und Verzicht auf ihre Diffamierung eingehalten werden. Dieses neue gesellschaftliche Verständnis wird auch uns hier Versammelte mit dem Obulus von 150 Mark Eintritt aus der Anonymität namenloser Steuerzahler herausführen und uns zu in der Lokalpresse gefeierten Wohltätern unserer Gesellschaft machen. Und wir können dadurch nicht nur unsere gesellschaftliche und politische Position festigen, sondern steigern auch unser persönliches Selbstwertgefühl.
Zusammenfassend sollten wir in diesem gelungenen Abend eine Gelegenheit sehen, den Wirkmechanismus eines modernen Staates zu demonstrieren: das Nehmen und Geben der bürgerlichen Führungsschichten. Oder wie der von uns allen so verehrte Kurt Tucholsky sagte: Wir nehmen die Mark, aber wir geben den Pfennig. So löst sich der scheinbare Widerspruch, liebe Festgäste. Und wenn sich Ihnen nun das Buffet öffnet, denken Sie daran: Mousse au Chocolat ist etwas Feines, aber was Sie heute Abend erhalten, ist mehr, ist Humanis-mousse au Chocolat, Wohltat mit Geschmack. Guten Appetit!

Auszug aus der Dankesrede Georg Schramms anlässlich der Entgegennahme des Erich-Fromm-Preises am 26. März 2012 in Stuttgart