15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Dschihadisten

von Wolfgang Brauer

Was treibt junge Menschen, sich einen Sprengstoffgürtel umzulegen und wenige Stunden später sich selbst und noch möglichst viele andere in die Luft zu sprengen? Kurz danach werden diverse Bekennervideos über das Internet veröffentlicht. Es gibt Gratulations-, nicht Gedenkveranstaltungen, die eher Rekrutierungsappellen gleichen denn dem, was wir unter Trauer und Gedenken verstehen: „Es ist nicht möglich, eine Heimat ohne Aufopferung und Blut zu befreien. So ist die Geschichte und das ist die Wirklichkeit. Es ist unvermeidlich für uns, zu opfern und aufzuopfern.“ So verkündete es ein Scheich der Moschee, in der der junge Mann oft gebetet hatte, auf der Veranstaltung zu Ehren des Todes des siebzehnjährigen Sa’ed aus Nablus. Sa’ed zündete seinen Sprengstoffgürtel am 19. Juni 2002 in Jerusalem und riss sieben weitere Menschen, darunter ein fünfjähriges Kind, mit in den Tod. „Glückwunsch euch, Familie von Sa’ed, oh ihr, die hervorgebracht habt den Helden Sa’ed“, verkündete der Scheich im Versammlungsraum der Aqsa-Brigaden. „Die Frauen besuchten Sa’eds Mutter in der Wohnung, in der sie damals nach der Hauszerstörung lebten.“ Das alles berichtet der Sozialwissenschaftler Martin Schäuble in seinem Buch „Dschihadisten“, seiner 2011 im Verlag Hans Schiler veröffentlichten Dissertation. Er zitiert auch die Trauer und Verbitterung der Mutter wenige Jahre nach dem Tod ihres Sohnes: „Sie schickten ihn nur los, um die Operation zu machen, dann vergaßen sie ihn.“
Schäuble recherchierte minutiös die Biographie, das soziale und geistige Umfeld Sa’eds von Kindesbeinen an – bis wenige Minuten vor dem Attentat. Das ist aufschlussreich, relativiert es doch erheblich unser stark medial geprägtes Bild vom fanatisierten Islamisten, der nichts anderes im Sinn habe, als möglichst rasch als Märtyrer zu enden. Nicht zufällig setzt der Autor als Motto seines Buches den Satz der Soziologin Christel Hopf „Gewaltbereitschaft wird primär sozial produziert.“ – „Die Herren machen es selbst, dass ihnen der arme Mann zum Feind wird“, wusste schon Thomas Müntzer. Martin Schäuble lässt keinen Zweifel daran, dass es die Art der israelischen Kriegsführung gegen die zweite Intifada war, die eine besondere Qualität irrationalen palästinensischen Widerstandes provozierte, macht aber zugleich klar, dass die fanatisierten Aqsa-Märtyrer-Brigaden ohne religiöse Grundierung nicht denkbar sind.
Nur, auch das macht Schäubles Untersuchung deutlich, ist die Art und Weise der gelebten Religion hier eher Katalysator denn Ursache. Am Ende seines Bandes veröffentlicht der Autor Gespräche mit dem Entwicklungspsychologen Rolf Oerter, dem Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, dem Soziologen Peter Waldmann und der Religionswissenschaftlerin Monika Wohlrab-Sahr. Waldmann äußert sich zur Rolle der Religion: „Alle monotheistischen Religionen weisen eine grundsätzliche Ambivalenz auf. Sie verstehen sich zum einen als Friedensstifter, können aber auch zu Gewalt stimulieren und aufrufen. Viele haben in diesen Religionen gelernt, die zu Gewalt auffordernden Texte mehr metaphorisch zu lesen. Doch sobald eine Religion in eine Bedrohungslage gerät, Abstiegsängste bei Gläubigen vorliegen, werden Texte zunehmend wörtlich interpretiert.“
Das trifft nun gerade nicht auf die Vergleichsperson Sa’eds zu, den gleichaltrigen Daniel aus dem Saarland, der mit drei Komplizen im Jahre 2007 mehrere Bomben mit einer Gesamtsprengkraft von 410 Kilogramm TNT hochgehen lassen wollte. Diese Terrorbande ging als „Sauerland-Gruppe“ in die bundesdeutsche Justizgeschichte ein. Daniel konnte vor Ausführung der Tat verhaftet werden. Zurzeit sitzt er noch seine zwölfjährige Freiheitsstrafe ab. Auch die nicht zustande gekommenen Massaker werden von den verhinderten Tätern religiös begründet. Daniel konvertierte zum Islam. Und wie wohl viele Konvertiten zeichnete er sich durch besonderen – seine nun neue islamische Umwelt durchaus nervenden – Glaubenseifer aus. Dazu kam eine fast vollständige soziale und familiäre Entwurzelung, die ihn empfänglich für die Leimruten der Hassprediger machte. Wenn Rolf Oerter feststellt, dass es Palästinenser-Biografien gäbe, die „fast zwangsläufig zum Attentäter führen“, so ist das beim gestrauchelten bundesdeutschen Mittelschichten-Kind Daniel mitnichten der Fall. „Der Sumpf ist eigentlich der männliche Narzissmus und die Jugendkultur. Und da gibt es Entwicklungen, die in diese Richtung gehen können, aber viel stärker individualisiert sind.“ Diesen Befund Wolfgang Schmidbauers belegt Martin Schäuble sehr nachdrücklich am Beispiel der Biografie Daniels, die – so hat es den Anschein – für den Autoren bedeutend schwieriger zu recherchieren war als die Sa’eds unter den Bedingungen eines realen Krieges.
Deutlich wird, so problematisch der Biografienvergleich quasi zwischen Sattheit und Verzweiflung trotz des scheinbar einigenden Bandes „Dschihad“ auch sein mag: „… ganz oben bei der Entwicklung zum Attentäter steht die Erfahrung von Sinnlosigkeit“ (Rolf Oerter). Und da steht eine westliche Gesellschaft, die es zulässt, dass in ganzen Volkswirtschaften um die 50 Prozent aller jungen Leute arbeitslos sind und weitere elf bis 15 Prozent sich vollständig aufgegeben haben, am Rande der Implosion. Bei aller Nüchternheit, die der sozialwissenschaftlichen Methodik geschuldet ist, handelt es sich bei Martin Schäubles Buch um einen Text, der wachrütteln sollte. Ihm ist Aufmerksamkeit zu wünschen.
Ein notwendiger Nachsatz: Medienmenschen, Politiker, Pädagogen und andere „Multiplikatoren“ sollten die vom Autoren geübte Vorsicht im Umgang mit Begrifflichkeiten mit Aufmerksamkeit beobachten. Schäuble weist auf die Verlockung hin, das Wort „Dschihad“ mit „Heiliger Krieg“ zu übersetzen. Er sagt aber auch, dass Dschihad „sich anstrengen“ bedeute, also genau genommen nichts andere heiße, als „das Bemühen, ‚auf dem Pfade Gottes’ für den eigenen Glauben und den Islam unterwegs zu sein“. Ein Sicheinlassen auf diese Argumentation brächte allerdings das westlich-christliche auf Abwehr eingestellte Islam-Bild ins Wanken.

Martin Schäuble: Dschihadisten. Feldforschung in den Milieus. Die Analyse zu Black Box Dschihad, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2011 (Schriftenreihe Politik und Kultur am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, Band 12), 390 Seiten, 32 Euro